Mutiert in der Kanalisation: Der Berliner Horror-Waschbär
Soweit aus Polizeiakten rekonstruierbar, war es eine verkrachte Existenz, die im Jahre 1912 Waschbären nach Berlin brachte, ein gewisser Dieter Müller, der vorher schon mit vielen dubiosen Kleinstunternehmungen versucht hatte, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, und schließlich in einem verschachtelten Hinterhof des damaligen Arbeiterbezirks Prenzlauer Berg eine illegale Pelztierzucht zu betreiben versuchte.
Im Hungerwinter des ersten Weltkriegs 1917-18 wurden Nachbarn auf die anhaltenden Schreie der Tiere aufmerksam und riefen die Polizei. – Gleich nach seinem Verhör erschoß sich Müller, jedoch nicht ohne vorher die Tiere freigelassen zu haben.
Alles Suchen nach den Tieren blieb vergeblich. Heute erklären wir uns das mit den Besonderheiten der weitläufig verzweigten Kanalisation des Prenzlauer Berges. Damals jedoch glaubte man, die Tiere seien in die Schorfheide entwichen. Ein fataler Irrtum.
Mehr als 30 Jahre waren die Tiere verschwunden. Erst in der DDR war die Population so angewachsen, daß sie auffällig wurde. Den SED-Funktionären waren die Waschbären eine willkommene Gelegenheit, den Kapitalismus zu diskreditieren: Die Pelztiere galten ihnen als corpus delicti für die strukturell angelegten kriminellen Tendenzen des Unternehmertums.
Damals, 1952, waren die Tiere noch nicht gefährlich, bloß lästig: Sie stibitzten den Kindern das Pausenbrot und nicht selten drangen sie in Wohnungen ein und saßen im Wohnzimmer auf dem Sofa, wenn die Bewohner von der Arbeit zurückkamen. Die Tiere ließen sich zwar leicht vertreiben, ließen aber aus Protest etwas Stinkendes zurück, was das Sofa für immer verdarb.
Alle Anstrengungen, die Waschbären auszurotten, scheiterten. Das beste, was mit Jagd und Gift erzielt werden konnte, war, die Population so zu schrumpfen, daß die Parteiführung das Problem verleugnen konnte. Das Lob der Errungenschaften des Sozialismus und die damals an jeder Ecke angebrachte Versicherung, von der Sowjetunion lernen heiße siegen lernen, waren einfach nicht damit vereinbar, einem illegal in die Stadt gelangten kriminellen Waschbärklan nicht beizukommen.
Offiziell gab´s also keine Waschbären.
Walter Krinkelfink, 1932 – 2003, der letzte Waschbärjäger der DDR, wurde 1991 aus dem Dienst entlassen. Die Wessis, die die Verwaltung übernommen hatten, sahen nicht ein, für die Bekämpfung eines offiziell nicht-existierenden Problems etwas zu bezahlen.
Krinkelfink jedoch verstand die Eingrenzung der Population als sein Lebenswerk und betrieb die Waschbärjagd ehrenamtlich weiter bis zu seinem Tod. Ihm ist es zu verdanken, daß das Problem erst im neuen Jahrtausend wieder zum Problem wurde, genau genommen 2009. Da strebten die ersten Touristen Entschädigungsprozesse wegen Waschbärbissen an. Keiner von ihnen jedoch erfolgreich, weil man gegen ein Problem, dem offiziell die Anerkennung als Problem verweigert wird (ähnlich wie es z.B. beim Qualitätsproblem des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks der Fall ist) – naja, jedenfalls, gegen so ein Problem kann man nicht klagen.
Dank der Aussagen Krinkelfinks über die eingesetzten Gifte können wir die Mutation der Waschbären rekonstruieren: Von den Waschbären, die das Gift überlebten, starben nur jene Vererbungslinien nicht aus, die schnell fruchtbar wurden und Nahrungskonkurrenten ausmerzten durch infektiöse Bisse. Für die Infektion sorgte eine Symbiose mit einem Virenstamm. Entstanden war diese Symbiose, weil das Gift die Abwehr der Waschbären schwächte, so daß die Viren gegen das Immunsystem der Waschbären immun wurden. Der Nachwuchs der Waschbären kommt bereits infiziert zur Welt. Sie sterben nach zwei Jahren an der Infektion, haben sich dann aber bereits mehrfach fortgepflanzt.
Ohne diese schnelle Generationenfolge durch frühe Fruchtbarkeit wäre die Mutation der Tiere in einem so kurzen Zeitraum nicht möglich gewesen. Verantwortlich für die frühe Fruchtbarkeit waren die Abwässer eines agrarwissenschaftlichen Instituts der DDR, das an Hormongaben forschte, die Schweine schon vor der natürlichen Geschlechtsreife fortpflanzungsfähig machen sollten.
Die Waschbären sind evolutionär darauf geprägt, alle Feinde und Nahrungskonkurrenten mit Bissen zu infizieren. Der Bißinstinkt ist stärker als der Fluchtinstinkt. Bei größeren Lebewesen – wie dem Menschen – ist der Biß zwar nicht tödlich, führt aber zu einer Infektion, die nie mehr richtig weggeht. Wir Menschen kriegen Pickel davon, große, stark entstellende, schmerzende Pickel, die eine übelriechende Flüssigkeit absondern. Die Erstmanifestation dieser Pickel verschwindet zwar nach zwei Monaten, doch ähnlich wie bei Herpes kehren die Pickel bei Stress zurück, vor allem bei Gefühlen von Wut und Ärger.
Die Ost-Berliner kannten das Problem, das es offiziell nicht gab. Vom Vater auf den Sohn, von der Mutter auf die Tochter vererbten sie das Wissen, wie man die Tiere mit einer Drohgebärde vertreiben kann. Um diese Drohgebärde auf Reflex so exakt wie erforderlich auszuführen, ist langes Training nötig. – Bei jeder neuen Waschbärgeneration führen diese Drohgebärden über Prozesse klassischer Konditionierung schnell dazu, daß schon allein der Berliner Dialekt die Tiere davon abhält, sich aus der Deckung zu stürzen. Deshalb ist auch die West-Berliner Urbevölkerung überwiegend sicher. Allerdings muß der Dialekt „waschecht“ sein, offenbar können die Tiere kleinste Unterschiede registrieren: mit hochdeutschem Akzent zu berlinern, wie es manche Schauspieler tun, wird von den Waschbären nicht als Wehrhaftigkeitsausweis akzeptiert.
Berliner türkischer und arabischer Herkunft, die traditionell weniger Berührungsängste mit den Ost-Berlinern haben, als die Zehlen-, Schmargen- und Wilmersdörfler oder gar die Grunewäldler – lernten von den Alt-Berlinern schnell die einschlägigen Drohgebärden, so daß auch ihr Akzent jetzt den Fluchtreflex der Tiere auslöst. – Die Hochrisikogruppen für Bißinfektionen sind alkoholisierte Touristen und Fußgänger mit Rollkoffer. Die Waschbären haben einen guten Geruchssinn, sie erkennen selbst leicht alkoholisierte Personen, und der Geruch stachelt die Bißfreude der Tiere deutlich an. Und auf Rollkofferlärm reagieren sie einfach aggressiv.
Schon bald nach dem Wiederauftreten der Plage beklagten Infizierte, daß ihre Partnerschaft wegen der Pickel in die Brüche gegangen sei. Ausschlaggeben dafür sei die Entstellung gewesen und vor allem der Geruch. Wie wir in Erfahrung bringen konnten, wird sogar von der katholischen Kirche hinter verschlossenen Türen erwogen, die Pickel als Scheidungsgrund anzuerkennen.
Die ersten Journalisten, die 2009 von dem Problem berichteten, wurden von der Tourismuslobby mit Klagen wegen Geschäftsschädigung bedroht. Es wurde ein richterlicher Beschluß erwirkt, der es untersagte, die bereits veröffentlichten Artikel ins Netz zu stellen. Sie sind nur noch in den Zeitungsarchiven verfügbar – sofern sie nicht herausgerissen wurden. – Nachrichten über die Tiere, die es dennoch in die Öffentlichkeit schaffen, werden heftig von der Tourismuslobby dementiert. – Mittlerweile sind die findigen Journalisten offenbar dazu übergegangen, „durch die Blume“ von dem Problem zu berichten – so erklären wir uns jedenfalls den Artikel im Tagesspiegel vom 28.12.18.
Klammheimlich sollen die Tiere jetzt ausgerottet werden. Nur wegen der Touristen! Wir Berliner, egal ob deutscher, hugenottischer, jüdischer, polnischer, russischer, arabischer, türkischer, sächsischer oder schwäbischer Herkunft, wir Berliner kommen mit unseren Waschbären gut klar. Die Waschbären gehören zu Berlin. Und sie waren eher da als die Touristen. Laßt unsere Bären in Ruhe!
Berlin 01.01.19
für die Organisation Berliner Bärenschutz
Daniel Seefeld
(Keine Angst, dies ist nur eine Geschichte! – Kein Fake ist leider die Schweinerei mit den Schweinen – sowie die Berührungsängste vieler West-Berliner mit Ost-Berlinern selbst 30 Jahre nach der Wende… D. Seefeld)
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