Inhalt:
1 Schmachten nach Begierde
2 Der Teufel als Psychotherapeut
Lesezeit: 4 Minuten
1 Schmachten nach Begierde
Offenbar weil Faust klar wurde, was er Margarete antut („ihren Frieden mußt ich untergraben“), ist er ins Gebirge geflohen, um die Geschichte zu unterbrechen und zu überlegen, wie es weitergehen soll. Hier fällt ihm auf, daß Naturerleben viel erfüllender ist, als ihm in der krisenhaften Zeit vor der Wette präsent war. Er erlebt, an was er offenbar nicht mehr gedacht hatte: daß er „Kraft“ hat (gemeint ist möglicherweise eine besondere Erlebnisfähigkeit), die Natur zu „fühlen und zu genießen“ – ein Vermögen, daß er in seinem vom Teufel unterstützten Experiment kaum zum Zuge kommen läßt.
Faust hat eine Besinnungspause für eine erste Zwischenauswertung seines Experiments. Sein Ausspruch: „So taumel ich von Begierde zu Genuß und im Genuß verschmacht ich nach Begierde“ könnte eine Klage sein aber auch eine Feststellung: “So ist das also, interessant!“
Zugunsten von sinnvollen Tätigkeiten können wir auf Genuß gut verzichten. Ins Extrem getrieben sehen wir diese Verzichtfähigkeit bei Nonnen, die sich für Kranke oder Arme engagieren. Wir können den Sinn gegen die Lust sehr stark machen: „Wer ein Wozu zum Leben hat erträgt fast jedes Wie“ (Nietzsche). Tat macht zufriedener als Genuß. Sinn ermöglicht, Lustmangel zu ignorieren. (Allerdings: Wir brauchen ein gewisses Maß an Genuß, um tätig sein zu können. Sonst droht Schwermut mit Störungen des Antriebs und des Denkens („burn out“).
Faust hat sich entschieden, aus experimentellen Gründen Sinn auszuklammern und sich treiben zu lassen: nur noch der größten Attraktion zu folgen, und nur so lange, wie er Bock hat. – Wenn die sinnvollen Tätigkeiten nicht mehr das Zugpferd des Lebens sind, und der Genuß, der sich aus den sinnvollen Lebensvollzügen von selbst ergibt, z.B. beim Essen oder in der Liebe, nicht mehr genügt, sondern wenn das Leben nur noch darin besteht, Genuß um seiner selbst willen zu suchen, dann entsteht eine Unfähigkeit zu entbehren, denn Entbehren hat keinen Sinn mehr, es wird nicht mehr erträglich durch das Gefühl, etwas Sinnvolles, Richtiges, Wertvolles zu tun.
Das ist die erste Erkenntnis, die Faust aus seinem Experiment zieht: Lust ohne Sinn macht haltlos. Sobald die erste Stillung eines Verlangens einsetzt, meldet sich schon das nächste Verlangen und macht der Gestilltheit ihr Recht streitig. Man kann nicht mehr sagen: „Nein, es wird sich lohnen, das neue Verlangen jetzt nicht zu beachten. Wie blöd wäre das, dieses wunderbare Erlebnis jetzt durch weitere Erlebnisse zu relativieren? Ich würde den Wert und den Sinn schmälern, den es für mich hat, ich würde die Nachfreude verringern und nicht zuletzt Zeit verlieren!“ – Ohne Sinn überlappen sich Stillung und Schmachten. Entfesselte Gier ist wie Salzwasser trinken.
(Der Philosoph Karl Jaspers beschreibt diese Einstellung so: „Das Bewußtsein gibt sich an eine Sache hin und der Genuß ist bei der Hingabe, nicht bei der Sache. Es kann daher die Persönlichkeit innerlich unbeteiligt sein … es berührt sie im Genuß die Sache als solche gar nicht“. Der Genuß „ist nie bei der Sache sondern bloß beim Genuß. … Es gibt … keine wirkliche Vorliebe. Es muß nur immer mehr herbei, immer Neues, Stoff und wieder Stoff. Was menschenmöglich ist, was Menschen nur erleben können, das wird gesucht“ (Jaspers, Karl, Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 19605, S.93)
Zum Zeitpunkt seiner Zwischenbetrachtung glaubt Faust wahrscheinlich, sein Experiment unter Kontrolle halten zu können. Er rechnet nicht mit der Stärke der Kräfte, die er entfesselt hat: Bevor er seinen Befund ausgewertet und seine Schlüsse daraus gezogen hat, taucht Mephisto auf und stachelt die Begierde an, sich erneut in den Taumel zu stürzen, entgegen aller Einwände.
2 Der Teufel als Psychotherapeut
Das Ende der Szene bietet eine Form perverser Psychotherapie: Faust ist dabei, sich klarzumachen, daß er Margarete ins Unglück stürzt, wenn er die Beziehung nicht beendet. Mephisto nutzt daraufhin eine klassische verhaltenstherapeutische Intervention: Er macht Faust darauf aufmerksam, daß er „katastrophisiert“: „Ihr sollt in eures Liebchens Kammer, nicht etwa in den Tod! … Wo so ein Köpfchen keinen Ausweg sieht, stellt es sich gleich das Ende vor!“
Wenn wir vereinfachend annehmen, daß Mephisto hier nur eine Instanz in Faust selber ist, geschieht hier Folgendes: Faust realisiert, daß er drauf und dran ist, ein Unrecht an Margarete zu begehen, ein Unrecht, das im schlimmsten Fall katastrophal enden kann. (Und tatsächlich tritt dieser schlimmste Fall später ein und zwar noch weit schlimmer, als Faust sich ausmalen konnte: eine ganze Familie ist hinterher ausgelöscht.)
Aber Faust begehrt Margarete. In diesem Konflikt zwischen Verlangen und Verantwortung zweifelt er an seiner Bewertung der Situation: Ist das denn wirklich alles sooo furchtbar schlimm? Mein Gott, das sind doch alles lösbare Probleme! Irgendeine Lösung wird sich schon finden! Ja sicher, toll ist das nicht, was er da mit Margarete macht, aber sie will es doch auch! Vielleicht hat sie soviel Spaß dabei, daß es sich trotz allem für sie gelohnt haben wird! Wie blöd wär das denn, sich hier von dem denkbar pessimistischsten Szenario davon abhalten zu lassen, eine so tolle Gelegenheit zu nutzen!
Faust bagatellisiert das Problem, glaubt aber, bloß realistisch zu sein. Seine Begierde verdreht ihm den Kopf.
Mephisto ist ein Meister darin, mit Desillusionierung zu manipulieren: „Bloß weil du dir nicht vorstellen kannst, wie wahrscheinlich es ist, daß alles gut ausgeht, stellst du dir gleich die Katastrophe vor!“ In gewisser Weise hat Mephisto damit recht: Ein voreheliches Liebeserlebnis muß für Margarete nicht in einer Katastrophe enden.
Doch ein echter Psychotherapeut würde sagen: „Sie haben selbst erkannt, wie menschenverachtend das ist, was Sie da vorhaben, wie sehr Sie damit gegen Ihre eigenen Werte verstoßen und wie unverantwortlich riskant das für Margarete ist. Was fällt Ihnen daran so schwer, darauf zu verzichten?“
Diese Frage würde Fausts Forschungsprozeß wieder in Gang bringen: die Erforschung seiner Wünsche, Bestrebungen, Ängste, Gefühle, Vorstellungen, Werte und inneren Konflikte. Faust würde sein Experiment reflektieren: Funktioniert dieses Experiment noch, wenn er sein Taumeln begrenzt auf einen von Werten abgesteckten Korridor, statt drauflos zu experimentieren mit dem Risiko, hinterher den Schaden nicht mehr begrenzt zu kriegen? Kann er sein Experiment modifizieren oder muß er es aufgeben?
Doch Faust hat in seinem Studierzimmer den Sinn zugunsten der Tat verworfen. Besinnung ist nicht seine Sache. Daher können sich diese Fragen nicht stellen, und Mephisto hat eine Chance Fausts Bedenken klein zu reden und ihn in seinem fragwürdigen Vorhaben zu bestärken.
Doch was noch untherapeutischer ist: Für den Fall, daß Faust nicht bereit ist, seine Bedenken zu ignorieren und die berechtigte Angst zu überwinden, verbindet Mephisto seine tendenziöse Realitätsprüfung manipulativ mit einer Abwertung: „du Tor“.
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