von Daniel Seefeld
Vorbemerkung
Vielleicht zeichnet sich bei diesen Geschichten wenigstens ab, was in der Auseinandersetzung mit dem Rätsel menschlicher Grausamkeit literarisch sinnvoll ist und was nicht; denn jede Form, Grauen zur Sprache zu bringen, ist schon eine Verharmlosung, eine Illusion der Integrierbarkeit des Unintegrierbaren. – Aber es nicht zur Sprache zu bringen birgt eine andere Gefahr: nicht dran zu denken. Tatsächlich sind die Suggestionen des funktionierenden Alltags in unseren reichen, befriedeten Ländern so stark, daß wir de facto meist so tun, als wär nichts.
Literatur mit Splitterwirkung ist unangenehm. Sie hat nichts mit dem Thriller- oder Horrorgenre zu tun. Sondern man möchte sie am liebsten nicht gelesen haben.
Beispiele für Literatur, die Splitter in der Seele zurückläßt, sind:
- Goethes Darstellung von Margarete im Kerker.
- Schillers Darstellung der Inquisition.
- Aitmatovs Schilderung von den Grausamkeiten der Steppennomaden.
- Kafkas Schilderung eines „Prozesses“ in „der Verschollene“.
- Einige Novellen Guy de Maupassants, die beim Lesen oft harmlos, ja grotesk wirken und erst nachträglich ihre Splitterwirkung entfalten.
Ein „Splitter“ ist jede Geschichte, bei der man es seltsam unangemessen empfinden würde, Sätze zu sagen wie: „am besten von allen hat mir diese gefallen“. (Es ist wie in der Musik: Bei Schönbergs „Gurreliedern“ kann man eventuell noch sagen, sie hätten einem gut gefallen – bei seinem Oratorium „Ein Überlebender aus Warschau“ nicht.)
Die „Splitter“ stellen die Frage, wie es möglich ist, daß Menschen Menschen Leid antun. Wie sie es schaffen, weder empathisch noch vernünftig zu sein. Ja, wie sie es schaffen, Leid zu zu fügen oder von der Zufügung von Leid zu profitieren, und dabei zu glauben, daß das schon in Ordnung sei; statt daß dieses Leid der anderen ihnen wie Splitter in der Seele sitzt und immer unerträglicher wird.
Mozart
Korja ist drei, als ihm auffällt, daß er immer innehält und zuhört, wenn der Vater auf der Triss spielt, einem Saiteninstrument. Korja ist dann ganz Ohr. – Korja will auch auf den Saiten spielen, der Vater zeigt ihm Griffe, jeder Ton ist ein Wunder. – Der Vater staunt, als er Korja spielen sieht. – Bald spielt Korja so, daß es dem, was der Vater macht, schon manchmal ähnlich klingt.
Korja ist fünf, als sich ihm zum ersten Mal die Frage stellt, warum der Vater auf der Triss manches nicht macht, was man doch machen könnte. Diese Frage stellt sich ihm jetzt sich immer öfter.
Korja ist sieben. Ein weiteres Geschwisterchen wird geboren, das vierte. Die Eltern führen Korja zu einem Mann und verabschieden sich von ihm, ganz zärtlich und liebevoll, beide haben Tränen in den Augen. Korja fühlt sich so geliebt! Es kann nichts Schlechtes sein, zu dem die Eltern ihn schicken, damit sie das Schwesterchen ernähren können. Der Mann ist bloß so komisch ungeduldig und scheint gar keine Zeit zu haben, sich über Korja zu freuen, so wie die anderen Erwachsenen, die Korja bisher kennengelernt hat.
Er kommt in ein Schloß. In einem Kellerraum gibt es viele Strohmatten, davon kriegt er eine zugewiesen. Es ist aber nicht allein seine, er muß sie sich mit einem anderen Jungen teilen. Die Jungs, die er sieht, grinsen ihn an. Korja kriegt gezeigt, wie er in den großen hellen Zimmern die kostbaren Kerzenständer und Figuren aus kühlem dunklen Metall putzen muß. Ein älterer Junge, der vorbeikommt, haut ihm in Gesicht und grinst dabei. Korja fragt, warum er das tue, aber der Junge legt nur seinen Finger an den Mund, denn da ist schon der Aufseher und fährt Korja an, daß er in den großen hellen Räumen zu schweigen habe.
Als Korja am Abend den Schlafkeller betritt, halten ihn zwei der älteren Jungen fest. Ein dritter stopft ihm Strümpfe in den Mund und zieht ihm die Hose aus. Korja hat noch nie solche Schmerzen gehabt, er versucht sich zu wehren, aber sie halten ihn zu fest. Die andern Jungs machen das gleiche mit ihm. Die überraschend starken Schmerzen lenken Korja ab von einem anderen Gefühl – das wird immer übler – es ist ihm völlig neu, es ist ganz komisch, es ist kein Schmerz, aber dennoch schlimm, aber anders als alles was Korja kennt. Und obwohl es nicht eigentlich weh tut, fühlt es sich seltsamerweise bald schlimmer an als der Schmerz, so schlimm, daß Korja denkt: damit kann er nicht mehr leben.
Als sie ihn loslassen, rennt Korja schreiend aus dem Raum. Da kommt der Aufseher und herrscht ihn an, ruhig zu sein und zurück zu gehen. Korja kann nicht aufhören zu schreien. Da schlägt der Aufseher ihn. Immer mehr. Bis Korja aufhört zu schreien.
Am nächsten Tag steht Korja nicht auf. Der Aufseher kommt und schlägt ihn. Da steht er auf. Aber er steht nur herum, stumm, egal, wo man ihn hinführt. Selbst durch Schläge ist er zu nichts zu bewegen, nicht zu dem einfachsten Handgriff. Schließlich kommt eine Frau mit einem Topf. Sie ziehen ihm wieder die Hosen aus und die Frau gießt kochend heißes Wasser über seinen Hintern. Dann bringen sie ihn, weil er nur noch schreit, in eine kleine Kammer, so klein, daß er nur stehen kann, und schließen die Tür zu. Es ist stockdunkel. Sie sagen ihm, dort könne er jetzt schreien, soviel er wolle. Wenn er wieder arbeiten wolle, würden sie ihn heraus lassen.
Abends bringen sie ihm ein Glas Wasser. Am andern Morgen kommt der Aufseher und fragt ihn, ob er wieder arbeiten will. Korja nickt. Aber beim besten Willen, er kann nicht arbeiten, nicht richtig. Er macht nur ab und zu fahrige Bewegungen. Der Aufseher schimpft. Die älteren Jungs grinsen. Der Mann, der ihn von den Eltern abgeholt hat, kommt, und sagt ihm, daß es besser wäre, wenn er hier arbeiten würde. Arbeiten müsste er und wenn nicht hier, dann käme er in die Fabrik. Und hier wäre es besser. Viel besser.
Korja versucht zu arbeiten. Aber es gefällt dem Aufseher nicht, wie er arbeitet. Da bringen sie ihn in die Fabrik. Dort ist noch ein viel größerer Raum mit Strohmatten und viel mehr Kindern. Auch hier sind fast alle älter als Korja. Korja will weglaufen, aber das geht nicht, die Mauer ist zu hoch und am Tor halten ihn die Aufseher zurück und schlagen ihn.
Er wird an eine Maschine in einer riesigen Halle gestellt. Dort muß er immer einen Hebel bedienen, wenn eine Lampe aufleuchtet, und einen anderen, wenn eine Glocke schrillt. Die Luft ist dick und riecht unangenehm und komisch.
Abends tun die älteren Jungs ihm wieder weh und er muß Sachen mit ihnen machen, die ihn ekeln. Er versucht wieder wegzulaufen, aber wird wieder bloß verprügelt. Er denkt daran, daß er sein Schwesterchen ernähren muß und daß die Eltern ihn bestimmt bald besuchen kommen, und wenn sie sehen, was hier los ist, daß sie ihn dann sofort mitnehmen. Deshalb fügt er sich in alles.
Je länger die Eltern nicht kommen, desto zuversichtlicher ist er, daß sie bald kommen. Daß die andern ihn deshalb auslachen und ihm sagen, die würde er nie wieder sehen, kann er nicht glauben. Er hält es für wahrscheinlicher, daß das nur ein Teil ihrer Schickane ist.
Wenn er denken kann, denkt Korja jetzt immer öfter auch an Vaters Triss. Meist abends, vor dem Einschlafen, nachdem er an Vater und Mutter gedacht hat. Er malt sich dann aus, was er auf der Triss spielen würde. Und er hat immer tollere Ideen! Das fühlt sich irgendwie so gut an, sich diese Musik vorzustellen! Und er freut sich auf die Zeit, wo er Gelegenheit haben wird, sie auf der Triss zu spielen.
Als die Eltern immer noch nicht kommen, wird Korja krank und muß zur Arbeit geprügelt werden. Er wundert sich, daß er nicht stirbt. Nach zwei Jahren wird Korja nicht mehr so von den älteren Knaben gequält, denn er hat Freunde gefunden, Verbündete, und es sind genügend neue, jüngere Knaben da. Anfangs will Korja sie schützen. Aber er kann nichts ausrichten und wird wieder bloß geprügelt und vergewaltigt und seine Freunde drohen, sich von ihm abzuwenden. Da wird ihm das Los der Neuen ihm schnell egal. – Dennoch bohren ihre Schreie sich in ihn, es ist wie eine Wunde, die immer wieder aufgerissen wird.
Korja denkt jetzt immer weniger an die Eltern. Er glaubt, man habe seinen Eltern gesagt, daß er tot sei. Er glaubt, daß die deshalb nicht kommen.
Korja versucht immer wieder auszubrechen, aber die Fabrik ist zu gut gesichert. Er handelt sich nur wieder Prügel und Hunger ein und Schikanen der anderen Jungs, die für seine Ausbruchsversuche mit bestraft werden.
Korja denkt jetzt immer mehr an die Triss. Er weiß manchmal aber nicht, ob das ein Segen ist oder ein Fluch, denn es beginnt ihn zu quälen, daß er die Musik, die er sich vorstellt, nie richtig hören kann. – Und es ist so unbefriedigend, daß er sie mit niemandem teilen kann! – Er versucht mehrmals, sich so etwas wie ein Musikinstrument zu bauen, aber die andern Jungs zerstören es ihm immer, hämisch.
Korja ist 10, als ihm bewusst wird, daß er in der Fabrik nie ältere Leute sieht. Und wenig später wird ihm bewusst, daß die jungen Erwachsenen alle irgendwie komisch sind. Irgendwie. Mit 13 bekommt Korja immer mehr den Eindruck, daß ihm nichts Neues auf seiner Triss im Kopf einfällt. Mit 14 wird er immer enttäuschter und genervter davon, daß ihm immer nur noch dasselbe einfällt. Mit 15 hat er immer weniger Lust, abends vor dem Einschlafen an seine Triss zu denken.
Lange hat er sich dagegen gewehrt, mit den kleinen Jungs das zu machen, was mit ihm gemacht wurde. Schließlich lässt er sich doch dazu überreden, weil man ihn fragt, warum die es besser haben sollten als er und seine Freunde es gehabt haben. Und er muß sich beschämt eingestehen, daß es mehr Spaß macht, als seine Triss im Kopf. Aber es ist ein Spaß, der eigentlich nicht wirklich Spaß macht. Doch die Luft in der Fabrik ist so betäubend, daß er das fiese Gefühl, das dieser Spaß ihm macht, weniger fühlt als den Spaß. Das Spaßige ist stärker. Nur selten wird der Widerwille so groß, daß er es nicht macht.
Mit 16 versteht er plötzlich, was das bedeutet, was alle hier immer schon scherzhaft gesagt haben: Sie würden hier alle früh blöd. Die dicke, unangenehm komische Luft macht den Kopf kaputt! Es wird ihm immer klarer, was das bedeutet, wenn er die älteren sieht und wenn er vergleicht, was er sich früher an Musik vorstellen konnte und was jetzt. Er kriegt Panik: sein Kopf geht kaputt! Doch die Ausbruchsversuche sind – wie früher – zwecklos und schmerzhaft. Die Fabrik ist zu gut gesichert.
Mit 17 ist ihm fast egal, daß sein Kopf kaputt geht. Nur so ein unangenehmes untergründiges Gefühl geht nicht weg, das sich manchmal bis zur Panik steigert. Aber immer seltener. Und die Panik wird immer flüchtiger.
Mit 20 ist das Gefühl weg. Er fühlt überhaupt nichts mehr. Dunkel erinnert er sich noch an die Triss, noch dunkler an die Eltern. Er gehört jetzt zu denen, über die sich die Jüngeren lustig machen, weil sie so komisch sind. Aber mit 21 stört ihn auch das nicht mehr. Mit 22 nimmt er es gar nicht mehr wahr.
Als er 21 wurde kam ein Mann und sagte: er wäre jetzt volljährig und könne selber bestimmen, ob er bleiben wolle oder nicht. Er könne gehen, dürfe aber auch bleiben. – Aus Instinkt geht Korja.
Aber er weiß nicht wohin. Keiner kann ihm sagen, wo seine Eltern sind aber selbst wenn es ihm jemand gesagt hätte, hätte er den Weg nicht gefunden. Korja lungert auf der Straße herum, schläft draussen, hat Hunger, ist auf Allmosen angewiesen. Da geht er zurück in die Fabrik.
Mit 27 kann er sich kaum noch bewegen und hustet fast ununterbrochen. Der Husten ist quälend. Sie schicken ihn fort. Er klopft immer wieder ans Tor, er will wieder rein, wird aber immer wieder weg gejagt. Er weiß nicht, wohin. Er weiß auch nicht, woher er kam. Er weiß nur noch seinen Namen.
Er steht in den Straßen herum, mit anderen, die so aussehen, wie er. Leute in bunten Kleidern werfen ihnen was zu, kleine Münzen oder Stücke Brot. Zwei Jahre geht das noch so. Als er tot ist, entfernt man ihn aus dem Straßenbild wie einen Kadaver.
In den reichen Ländern gibt es dafür ganz billige Sachen.
(Link: Informationen über Kinderversklavung)
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