So modern wie verkannt? Zum Epilog von Goethes „Faust“

Die Sache ist eigentlich ganz einfach, etwa so: Der große Bruder wettet mit Papa, daß der kleine Bruder sich mit Schokoeis vollstopft, bis er kotzt. Doch plötzlich erscheint Mama, stinksauer, zischt: „ihr seit ja wohl völlig bescheuert“, und holt den Kleinen da weg.

Das Thema des Epilogs ist, modern formuliert, soziale Intelligenz: Was ist ein sozial intelligenter Umgang mit moralischem Versagen? Das wird exemplarisch dargestellt an der „Erlösung“ eines Eigensinnigen, der mit dem Ausleben seines Daseinsgrolls katastrophales Unheil anrichtete.

Inhalt: 

(1) Der poetische Sinn der mythologischen Figuren (Lesezeit 2 Minuten)
(2) Figuren- und Textstelleninterpretation (Lesezeit 24 Min): Die Eremiten: Pater Ecstaticus, Pater Profundus, Pater Seraphicus. – – Die Engel. – – Die seligen Knaben. – – Mater gloriosa. – – Dr. Marianus I. – – Die gute Seele. – – Dr. Marianus II. – – Fausts Erlösung – – Chorus Mysticus: Das Ewig Weibliche, das Vergängliche, das Unzulängliche und das Unbeschreibliche
(3) Anhönge (Lesezeit 6 Min.): Theologische Askesekritik. – –  Die Bösartigkeit der unreifen und die der reifen Menschen. – – Das Individuelle und das Überindividuelle. – – Der naturalistische Fehlschluß

 

(1) Der poetische Sinn der mythologischen Figuren

Man darf sich nicht verwirren lassen: Der Epilog ist unreligös gemeint. Goethe nutzte den Volksglauben als die vergängliche Gestalt, in der überzeitliche Ideen historisch ihre Form finden. So wie der Prolog nichts darüber aussagen will, ob es Gott gibt, will der Epilog nichts darüber sagen, was wir nach dem Tod zu erwarten haben. Das wäre keine Poesie sondern Ideologie. – Poesie bedeutet immer: entrückt werden aus dem Alltag durch Gleichnisse und sprachlichen Zauber.

Für Goethe hatten die Geschichten der Religionen ganz glaubensfrei etwas Poetisches. Und er war offenbar bewegt von der Haltung, die ihn aus den Elementen des christlichen Volksglaubens ansprach: wertschätzen statt verurteilen, integrieren statt ausstoßen. Die Figuren des Volksglaubens – Engel, Heilige, gute Geister und Muttergottes – bringt Goethe in ihrer liebenswürdigen Beschränktheit, ihrer rührenden, unfreiwilligen Komik auf die Bühne: Auch das Erlösende ist in seiner historischen Gestalt bedingt und unzulänglich, nicht weniger als die zu Erlösenden 1.

Indem er Elemente des Volksglaubens nutzt, knüpft Goethe gleichzeitig an das an, was für Margarete Realität ist. Das ist eine ebenso große Wertschätzung für Margarete wie für das „Volk“ – ähnlich wie Goethe in den „Wanderjahren“ aussterbende jahrhundertealte Handwerkstechniken minutiös beschrieb, in der sich die Findigkeit der vorindustriellen Kultur widerspiegelte: als etwas, das von uns erzählt.

Rilke drückt diese Haltung so aus: „Preise dem Engel die Welt, nicht die unsägliche, ihm kannst du nicht großtun mit herrlich Erfühltem; im Weltall, wo er fühlender fühlt, bist du ein Neuling. Drum zeig ihm das Einfache, das, von Geschlecht zu Geschlechtern gestaltet, als ein Unsriges lebt, neben der Hand und im Blick. Sag ihm die Dinge. Er wird staunender stehn; wie du standest bei dem Seiler in Rom, oder beim Töpfer am Nil“ (9. Duineser Elegie). – Der Epilog preist das Menschliche, das findig und geschickt Töpfe, Seile und Madonnenfiguren hervorbringt… –

Es geht darum, aus den Mythen und Märchen herauszuhören, was vom Menschlichen kündet: die unreligiösen vorbewußten Motive und Intentionen, die mit den zauberhaften mythischen Inhalten und Figuren verbunden sind.

Wenn im Folgenden von „Gott“ die Rede ist, steht das für das Überindividuelle: entweder für „Natur“ oder für „Sinn“. Das Leben „auf Gott ausrichten“ bedeutet entweder: Kontemplation auf das, was uns hervorgebracht hat und in uns wirkt; oder: konsequent nach dem Sinn leben, den unser Leben für andere Menschen haben kann.

 

(2) Figuren- und Textstelleninterpretation

(2.1) Die Eremiten:

Immer wenn Frauengeschichten scheitern, flieht Faust ins Gebirge. Gebirge fungiert leitmotivisch als Sinnbild für die Entrücktheit aus den Niederungen der alltäglichen Getriebenheiten in eine Sphäre der „Öde“: der besinnungsfördernden Abwesenheit von ablenkenden Außenreizen.

Das Gebirge des Epilogs, an dem Fausts Seele „nach oben“ geführt wird, ist mit heiligen Einsiedlern bevölkert. Ihre Nähe zu Gott hat offenbar die ganze Region so mit Liebe infiziert, daß die Löwen zahm wie Miezekatzen herumschnurren. Die wilden Triebe sind besiegt, die Tage des Zorns vorbei, nun kann es losgehen mit der Vollendung1a.

Was ist an Eremiten poetisch?

Eremiten sind Aussteiger. Sie haben die Konflikte des weltlichen Lebens satt. Sie machen das Rennen nach dem Glück nicht mehr mit. Sie wollen sich nicht von sinnlichen und seelischen Lüsten in ihrem Sinnen und Trachten beeinträchtigen lassen. Eremiten sind ein Sinnbild für die Emanzipation von der eigenen Natur und für die Kultivierung von Reflexion.

„Kultiviert“ ist Reflexion, wenn sie oft und stetig genug gepflegt wird, um Einfluß auf das Leben zu erlangen. – In einer duftenden Sommernacht im Gras zu liegen und angesichts des Sternenhimmels einen Schauder zu spüren, ist auch Reflexion, die in der Regel aber zu nichts führt. – Ein drastisches Beispiel dafür gibt es in einer Südsee-Erzählung Jack Londons: Eine Frau überlegt, wie sie eine schicke Standuhr finanzieren kann, um die die andern sie beneiden werden, da kommt ein Tsunami, sie wird auf eine entfernte Sandbank gespült, sieht an den angespülten Leichen, daß sie selber nur mit viel Glück überlebt hat, baut sich aus den angespülten Trümmern ein Floß, verdurstet auf dem Meer fast, erreicht aber mit letzter Kraft ihre Insel. Und als sie sich erholt hat, denkt sie – als wär nichts gewesen – wieder nur über die Finanzierung der Standuhr nach.

Kultivierte Reflexion dagegen lässt keine Ignoranz aufkommen gegen die einmal erlebte Relativierung der fraglosen Sicherheiten und Werte des eingelebten Lebenswandels, sondern erforscht diese Relativierung immer weiter und zieht daraus Konsequenzen.

Solche Reflexion erfordert Anstrengung, weil andere Gedanken unmittelbarer andrängen: „Was kann ich? Wo steh ich? Wo will ich hin? Wie kann ich das erreichen? Wie kann ich mich einbringen und was gibt mir das für eine Bedeutung und für einen Status? Welche Ziele sind realistisch? Was darf ich und was will ich wagen?“

Eine klassische Meditationsübung besteht darin, das Kommen und Gehen solcher Gedanken und Gefühle zu beobachten und immer besser zu erleben, daß wir sie genauso wenig selber machen, wie Atem und Herzschlag; zu erleben, wie wenig „Ich“ da eigentlich drin ist. – Eremiten machen aus derartigem Meditieren einen Hochleistungssport.

Doch der „Pater Ecstaticus“ wirkt seltsam: Inmitten zahmer Löwen ersehnt er nichts leidenschaftlicher, als zerrissen zu werden. – Als Faust mit den Engeln nach oben zieht, schaut er sich möglicherweise befremdet nach dem Pater um, und die Engel sagen: „Ach der! Das ist unser Ecci. Der hebt manchmal etwas ab, aber sonst ist er ganz o.k.“.

Für Fromme sind solche Selbstquäler Sinnbild für die Stärke der Sehnsucht nach der Verbundenheit mit Gott, und für die Heftigkeit und Hartnäckigkeit mit der unsere natürlichen und gewachsenen Bestrebungen von Leib und Seele sich immer wieder gegen Wissen und Willen durchsetzen, uns auf uns selbst beziehen, und von Gott abhalten. Die Figur des Paters veranschaulicht die Wut, die das aufstauen kann, die Wut auf alles, was uns immer wieder ablenkt von dem, was wir für wichtig und richtig erkannt haben. Das Bibelwort: „Wenn dich dein Auge stört, reiß es aus und wirf es weit von dir“ ist so zu verstehen. Die Fachleute nennen das: Stimuluskontrolle.

Die zweiten vier Verse des Paters können geradezu als Versprachlichung des Gefühls gelten, das viele rückfällige Alkoholiker nur allzu gut kennen, der Volksmund sagt´s nur schlichter: „Ich könnt mich in den Arsch beißen!“

Dennoch: die Heftigkeit der Autoaggression des Paters befremdet, sie wirkt unreif und hoch neurotisch. Das entspricht nicht dem Prinzip der Natur: „selbst im Großen ist es nicht Gewalt“ (Vers 7864). Ein reiferer Mann würde sagen: „Blöd, daß ich noch derart dem Nichtigen verhaftet bin. Aber ich habe Pflichten, ich kann mich nicht zerschmettern lassen, bloß um das Nichtige an mir ganz schnell zu verflüchtigen!“

Das Nichtige zu verflüchtigen, es der verflixten Triebhaftigkeit zu zeigen, das hat für den Pater Vorrang vor allem Bezug zu anderen Menschen. Eigentlich geht es ihm zwar um die „Ewige Liebe“, aber er will ein ganz toller Virtuose der Selbstlosigkeit werden, so etwas ist nur durch kompromissloses Training hin zu kriegen. Deshalb hat er bis auf weiteres erstmal gar keine Zeit für die selbstlose Tätigkeit, um die es der Liebe, die er glänzen lassen will, eigentlich geht [Anhang1 Theologische Askesekritik].

Der Pater ist vielleicht aus Verzweiflung so extrem, weil er das Paradox entdeckt hat: daß er ganz stolz darauf ist, fähig zu sein, seinen Stolz so kompromißlos zu zerstören.

Doch da, wo Löwen zahm sind, dürfen alle unzulänglich bleiben, ihre Unzulänglichkeit wird als „ready made“ Ereignis: etwas Einzelnes, an dem sich etwas Allgemeines abzeichnet, etwas, das uns über uns selbst belehrt, über die Kräfte, die in uns wirken, und die Bedingungen, unter denen sie sich verheddern…  (Ein „ready made“ ist ein Alltagsgegenstand, der zum Kunstwerk erklärt wird: Link zum Wikipedia-Eintrag)

In seiner Gewaltsamkeit und Selbstbezogenheit gleicht der Pater dem Faust vom Beginn des Dramas. Seine Worte haben eine entfernte Sinnverwandtschaft mit Fausts „Fluchlitanei“ („so fluch ich allem…“ Verse 1583ff). Und falls Faust im Vorüberschweben befremdet auf den Pater blickt, erblickt er eigentlich nur einen Teil seiner selbst.

Autoaggression als Abwehr von Schuldgefühlen: darin ist der Pater aber auch Margarete verwandt, die eine Chance zur Flucht hatte, aber ihre Hinrichtung freiwillig auf sich nahm! – Einem Teenager kann man allerdings zugestehen, durch schwere Schuld überfordert zu sein und „unreife“ Formen der Schuldbewältigung vorzuziehen, zumal Margarete niemanden hatte, der ihr beistand: Mutter und Bruder waren tot, Faust weg, und sie selbst geächtet wegen des Mordes an ihrem unehelichen Baby. Sie hatte niemanden mehr, der sie gegen ihre Selbstvorwürfe in Schutz nahm und sie bei der Bewältigung ihrer vernichtenden Schuldgefühle unterstützte.

Der Pater Profundus ist auch noch selbstbezüglich: Die Kräfte der Natur sollen die Wunden heilen, die das Leben seiner Seele geschlagen haben. – Sein „Inneres“ ist in einem Zustand, den Faust sehr gut kennen müßte: „verworren, kalt, verquält in stumpfer Sinne Schranken, scharf angeschlossenem Kettenschmerz“. Das gleicht dem „garstgen Wirrwarr netzumstrickter Qualen“, dem Faust nach Heimsuchung der Sorge nicht anheimfallen will. Aber während Faust stolz ist auf sein „inneres“ Licht, das ihm das äußere entbehrlich macht, wendet der Pater sich an Gott. Er sucht Interaktion wo Faust sich in einsames, von sich selbst eingenommenes Schaffen flüchtet.

Der Pater Seraphikus ist nicht mehr mit sich selbst beschäftigt, er kümmert sich um andere: um die seligen Knaben, blinde und unwissende Geister direkt nach der Geburt verstorbener Kinder. Der Pater ist empathisch und solidarisch, er will ihnen sofort helfen. Aber er kann sie auch problemlos wieder loslassen, als sie signalisieren, daß er nicht die richtige „Kur“ für sie hat.

Faust hingegen versuchte seinen in die Freiheit drängenden Sohn fest zu halten: „Nur mäßig, mäßig, nicht ins Verwegene! Daß Sturz und Unfall dir nicht begegne, zugrund uns richte der teure Sohn!“  Und Helena kurz darauf: „O denk o denke, wem du gehörest, wie es uns kränke, wie du zerstörest das schön errungene Mein, Dein und Sein!“ (Verse 9717ff).

Im Gegensatz zu Faust und Helena schreibt eine indianische Dichterin: „Noch seid ihr Jungen. Bald werdet ihr Männer sein, und ich muß euch freigeben. Ihr seid meine Söhne, doch ich kenne euch nicht. Ich kann große Träume für euch träumen, doch meine Träume sind nicht eure Träume. Euer Leben ist nicht mein Leben. Eures kann heute so enden, wie ich es nicht zu denken gewagt. Das alles weiß ich“ 2.

Wir zeigen unseren Kindern unsere Welt. Und wenn sie unsere Welt furchtbar finden, müssen wir bereit sein, daß sie uns einen Strich durch die Rechnung machen, denn die Zukunft ist ihre Zukunft, nicht mehr die unsere.

Der Pater Seraphikus hat diese Reife, die Faust noch nicht hat, und zeichnet damit Fausts Entwicklungsweg vor.

 

(2.2) Die Engel

Engeln sind die Personifikaktion wünschenswerter wirkender Kräfte, wie sie z.B. Lastwagenfahrer erleben: Sie staunen manchmal darüber, wie sie aus einer schwierigen Rangiersituation, in die sie unversehens gerieten, schon wieder heraus sind, noch bevor sie sich ganz darauf konzentrieren konnten und ohne einmal eine Lenkbewegung korrigiert zu haben.

Es handelt sich um das Erlebnis von Lerneffekten: Ein Teil unseres Gedächtnisses, von den Fachleuten „prozedurales Gedächtnis“ genannt, wird uns nicht bewußt. Wer viel Übung und Erfahrung in einem Handwerk hat, wird daher immer wieder mal von seinem Können überrascht. Wer soetwas öfter erlebt, kann schon auf den Gedanken kommen, daß Wesen dahinterstecken könnten, die uns wohlgesonnen sind.

Ähnlich kann ein guter Team- „Geist“, z.B. im Fußball, zu erstaunlichen Effekten führen, im Gegensatz zu einer Mann- oder Frauschaft, in der alle bestrebt sind, nur sich selbst zu profilieren.

Engel: das ist die Personifikation des nicht bewußten Potentials, das in Einzelnen, Gruppen oder Zivilisationen entstanden ist und sich ohne unser Zutun entbinden kann.

Die vollendeteren Engel: Zunächst muß die Zuständigkeitsfrage geklärt werden, und nach dem sie Faust an ausgsestreckten Armen mit zwei Fingern hochgehoben und mit gerümpfter Nase begutachtend hin und her gewendet haben, wird beschieden: „Nee, sowas machen wir hier nicht, das muß in die Reinigung“.

Es gibt offenbar ein Problem mit den Erdenresten: Faust hat sich im Leben verunreinigt durch das „Heranraffen der Elemente“: Durch die Erfolge getriebenen Wirkens („raffen“) entstand Faust eine Illusion von der eigenen Vorzüglichkeit. Solche Illusionen sind um so stärker, je mehr Erfolg sich jemand verschaffen kann, und je weniger er realisiert, welche Defizite an bewußter Gestaltung seine Lebensführung aufweist – wie sehr er Trieb und Stolz auf den Leim geht.

Ein weiser Rabbi hatte sich bei der Einschätzung des Zeitpunkts der Erlösung der Menschheit vertan und rechtfertigte sich so: „Die gemeinen Leute haben die vollkommene Umkehr getan oder können sie tun. Von ihrer Seite ist kein Hindernis. Das Hemmende sind die gehobenen Menschen. Sie vermögen nicht zur Demut und so auch nicht zur Umkehr zu gelangen“ 3.

Faust ist ein überdurchschnittlicher Mensch. Das wußte er schon vor der Wette. Und daß er den Versuchungen des Teufels bis ganz zum Schluß widerstanden hat, bekräftigt ihn darin. Und daß er schließlich einer Versuchung erlegen ist, die der Teufel gar nicht fähig war, sich auszumalen, bekräftigt ihn trotz Verlust der Wette ebenfalls, genauso wie die ganz neuen Ideen für die Menschheit, wegen deren „Genuß“ er die Wette verwirkt hat.

Wir können davon ausgehen: Faust findet sich ganz toll und hält sich für total wichtig. Das wurde ja auch dem alten Ehepaar zum Verhängnis, die er von ihrem Grundstück vertreiben wollte, weil er von da aus sein tolles Werk so gut betrachten konnte:

Dem Blick eröffnen weite Bahn,
Zu sehn was alles ich gethan,
Zu überschaun mit einem Blick
Des Menschengeistes Meisterstück,
Bethätigend, mit klugem Sinn,
Der Völker breiten Wohngewinn. (Verse 11245ff)

Trotz der fatalen Folgen, die solche Illusionen von der eigenen Vorzüglichkeit haben können, sind sie sehr menschlich und nachvollziehbar. Doch Engel, vor allem vollendetere, finden das höchst unfein, sie ekeln sich wie Polizisten vor einem verwahrlosten Obdachlosen und fassen Faust wahrscheinlich nur mit Handschuhen an.

Je größer der Stolz, je schwerer ist der Abschied davon: die desillusionierende Erkenntnis, wie wenig es auf die eigene Person ankommt. Die Engel erkennen: Bei diesem unreinen Geist ist diese Desillusionierung bloß mit Hilfe der „ewigen Liebe“ zu Wege zu bringen.

Die Unvollkommenheit Fausts bestand in seinem Bestreben, der Welt seinen Stempel aufzuprägen, ohne zu fragen, ob die das will. Er hatte eine Einstellung, die vor seinem Selbstbild sicher keinen Bestand gehabt hätte, wäre sie ihm bewußt gewesen: „Ich muß meinen Potentialen Sinn geben, egal wie ich dadurch die Chancen der anderen, ihren Potentialen Sinn zu geben, beeinträchtige oder zerstöre. Hauptsache, ich habe es geschafft, meinen Potentialen Sinn zu geben!“

Faust will für die Menschheit etwas ganz Tolles schaffen, statt mit ihr. Wenn selbst die vollendeteren Engel Faust nicht helfen können und ihn nicht an  vollendete Engel weiterreichen, sondern im Gegenteil: an die denkbar unvollendetsten (aber auch unverbildetsten), dann heißt das soviel wie: Selbstwertillusionen sind nicht therapierbar.

Zwar können wir können durch Solidarität und Verzeihen den Ausstoß aus der Gemeinschaft, die „Verdammung“, unterbinden und die Illusionierten „zurück ins Boot holen“, aber die „Läuterung“, die „Reinigung“ von den Illusionen, müssen sie selbst hinkriegen.

Hartnäckige Selbstwertillusionen entstehen durch Mangel an guten Beziehungen: Wer in seiner Kindheit erlebt hat, von den Eltern nicht viel erwarten zu können, und von andern noch weniger, erwartet auch als Erwachsener nicht viel von Beziehungen. – Was macht man, wenn man von Beziehungen nicht viel erwartet? Man sieht zu, möglichst wenig darauf angewiesen zu sein.

Viele Leute in so einer Situation fangen an, andere Menschen zu versorgen ohne von ihnen Gegenleistungen zu erwarten, so erleben sie, daß sie für andere Bedeutung haben. Sie entwickeln einen schönen Charakter, laufen aber langfristig Gefahr, sich zu erschöpfen („burn out“).

Leute wie Faust, die alleine leben können, bleiben dagegen weitgehend für sich, sie nehmen nix, sie geben nix. Deshalb erleben sie aber durch Beziehungen auch weniger an Freude, Anerkennung und Bedeutung.

So gar keine Bedeutung für andere zu haben ist doof, egal wie sehr man sich sonst selbst genügt. – Diesen Mangel scheint Faust zu kompensieren, in dem er durch sein Schaffen Bedeutung zu erlangen versucht: Er will mit seinem Landgewinnungsprojekt etwas Bedeutendes für die Menschheit leisten. Und das findet er gleich so bedeutend, daß er glaubt, dafür ruhig Piraterie betreiben und Arbeitssklaven „herbeipressen“ zu dürfen: „Arbeiter schaffe Meng auf Menge, ermuntere durch Genuß und Strenge, bezahle, locke, presse bei“ (Vers 11552ff).

Eine solche Einstellung kann nur durch neue Erfahrungen mit andern Menschen, korrigiert werden. Erst wer beginnt, seine lebensgeschichtlich gewachsenen Vorbehalte gegen die anderen Menschen in Frage zu stellen, und stattdessen riskiert, mit Kooperation und Solidarität „in Vorleistung“ zu gehen, erlebt so viel Sinn und Freude, daß er das Gefühl eigener Vortrefflichkeit immer weniger braucht. Und erst in dem Maße, wie der falsche Stolz nicht mehr gebraucht wird, ist es möglich, Selbstwertillusionen zu verlieren.

Nicht alle Menschen, die Überdurchschnittliches und Bedeutendes leisten, haben eine solche Selbstwertillusion. Vielen ist bewußt, daß ihre überdurchschnittliche Begabung und Leistungsfähigkeit nicht ihr Verdienst ist. Sie hätten sich das selber vielleicht nicht mal ausgesucht. Aber dann stellte es sich nach und nach heraus. Sie fühlen sich dennoch nicht als „was Besseres“, denn sie denken: „Jeder tut was er kann, darin unterscheiden die andern sich nicht von mir.“ – Faust ist möglicherweise nahe dran an dieser Reife, aber die Geschichte mit dem alten Ehepaar zeigt, daß da noch was Entscheidendes fehlt.

Doch wahrscheinlich gibt es keinen einzigen Menschen völlig ohne Ego-Illusion. Aber den Schaden durch unser Streben nach Bedeutung können wir minimieren, indem wir uns mehr um Kinder kümmern: Je besser unsere Beziehungen zur nachwachsenden Generation sind, desto überzeugender überliefern wir die Menschheitserfahrungen, die sich in den Werten und Kompetenzen unserer Zivilisation verkörpern. Dadurch wird der paradoxe Effekt unwahrscheinlicher, daß wir durch ein unpersönliches Engagement in Form eines stolzen Werkes denjenigen Schaden zufügen, für die wir uns mit unserem Werk engagieren wollen: den Nachgeborenen. – Wir neigen dazu, wie der Pater Ecxtaticus, selbst noch in unserer Selbstlosigkeit zu selbstbezogen zu sein.

Aus all diesen Gründen soll Faust der Lehrer der seligen Knaben werden. – So putzmunter wie die Knaben sind, ist das vielleicht schlimmer als Fegefeuer, und Faust wird irgendwann wie mancher Lehrer oder Sozialarbeiter stöhnen: „Ich bin von allem geheilt!“

 

(2.3) Die Seligen Knaben

Die Mär von den „seligen Knaben“ auf die Bühne zu bringen, gehört wohl zu den verrücktesten Einfällen Goethes. Es ist ein vieldeutiges Bild:

(2.3.1) Die seligen Knaben leiden unter einer „unerträglichen Leichtigkeit des Seins“. Darin erinnern sie an Homunkulus und Euphorion. Und wie die beiden, sind auch die Knaben ganz schön krekel und ansprüchlich: Sie wollen nichts Geringeres als Gott schauen. Der frühe Tod hat sie von allem abgeschnitten, mit dem sie eine Chance gehabt hätten, sich selbst einen Weg zu Gott zu bahnen, jetzt lümmeln sie sich hier herum, um per Anhalter dahin zu gelangen.

(2.3.2) Sie packen den verpuppten Faust aus, wahrscheinlich sind sie neugierig, was drin ist. Jedenfalls staunen sie, wie er plötzlich wächst: Sie reißen seine Verpuppung herunter, seine Luxusklamotten und seine Altersmaske, und heraus kommt: ein Jüngling. – So „enthüllt“ fällt von Faust ab, was ihn ans irdische Leben, an Trieb und Stolz, bindet. Mit dieser Distanz, diesem “ungetrübten“ Blick, wird es Faust möglich, sich zu desillusionieren, und daraus eine „echte“ Lehre zu ziehen, nicht eine „leere“, mit denen er die seligen Knaben höchstens „an der Nase herumziehen“ könnte. – Auch in diesem Sinne (als Fehler aus dem man klug wird) wird das Unzulängliche „Ereignis“.

(2.3.3) Stellt man sich die Szene inszeniert vor, sieht man, wie Kinder einen alten Mann jung pflegen. Der alte Goethe dreht die Erziehungsrichtung um und fragt: Wie fördert die Beziehung zu Kindern die persönliche Entwicklung Erwachsener? (In jedem Fall nur dann, wenn wir die Beziehungen zu Kindern nicht für unsere persönliche Entwicklung zu instrumentalisieren versuchen! Nur Leute wie der ungeläuterte Faust oder der Pater Ecstaticus würden meinen, unbedingt mehr Kontakt zu Kindern haben zu müssen, um ganz toll zu werden…)

Die Kinder verändern uns, weil sie unsere Empathie trainieren, uns ständig Anlaß geben, darüber nachzudenken, was berechtigte Ansprüche sind und was nicht, und weil sie unseren Blick schärfen für unsere eigenen kindhaften Züge, denen wir nie ganz entwachsen (z.B. für Trotzreaktionen, die bei Erwachsenen als solche nicht immer gleich auffallen, weil sie nicht so impulsiv und expressiv wie bei Kindern auftreten).

Und Kinder sind Desillusionierer: Sie können die Überwertigkeiten nicht nachvollziehen, die wir mit vielen Dingen verbinden („Des Kaisers neue Kleider“).

Nicht zuletzt inspirieren uns die Kinder, die Welt mal wieder so anzuschauen, wie wir sie als Kind gesehen haben: Wir bewunderten die Erwachsenen für ihre Stärke und Tapferkeit aber wunderten uns auch über ihre Beschränktheit. Sie hielten sich für Realisten, doch waren meist bloß eingenommen vom Nützlichen, verkannten das Mögliche und übersahen das Wunderbare. Mit jedem Kind wächst eine neue und einzigartige Sicht auf die Welt heran…

Goethe stellt die „seligen Knaben“ so krekel und aktiv dar, dass man glauben könnte, sein Sinn für Leben und Wachstum („Überall reget sich Bildung und Streben“) hätte ihm eine Intuition gestattet, die Erkenntnisse moderner Säuglingsforschung vorwegnimmt: Säuglinge haben ein angeborenes „Programm“, Beziehung zu stiften und zu gestalten. Sie sind nicht so hilflos, wie immer angenommen, sondern ziemlich „kompetent“ 4.

(2.3.4) Die „Ewige Liebe“ entsteht durch Unzulänglichkeit: Die Knaben sind unzulänglich, weil völlig ahnungslos. Faust ist unzulänglich, weil völlig verblendet. Und da gründen sie jetzt eine Selbsthilfegruppe der Unzulänglichen. Und in der entsteht durch die Erlebnisse von Solidarität und Kooperation Ewige Liebe.

Das ist schon irre: Faust, der große Wissenschaftler, der Topmanager, der innovative Staatsgründer, der Lebenserfahrene: er wird gehegt von den Seligen Knaben und belehrt von Margarete, einer jungen Frau, die die große Welt bestenfalls vom Fernsehen kennt (sie hat vom Himmel aus zugeschaut). Bezüglich dessen, was für Fausts Weiterentwicklung jetzt notwendig ist, sind Kinder und junge Leute geeigneter als Tüchtige und Lebenserfahrene – ja, selbst noch geeigneter als Engel!

(2.3.5) Die Knaben finden es toll, einfach bloß da zu sein. Sie haben ein Ziel, aber gehen es ganz gelassen an („cool“), ohne Ungeduld. Sie müssen weder sich noch anderen etwas beweisen. Sie sind zuversichtlich, ihr Ziel erreichen zu können. – Sie verbinden Genuß des Augenblicks mit Streben zur Höherentwicklung, sie sind das Gegenkonzept zu Fausts Dichotomie von Streben und Genuß.

(2.3.6) Die Knaben sind aber auch ein Sinnbild dafür, wie sehr Kinder die Beziehung zu Erwachsenen wollen, und welchen Sinn uns Erwachsenen das gibt. Etwa so: Faust brütet im Büro über seine Landgewinnungspläne, und dann kommen die Bengels und zerren ihn raus zum Fußballspiel. – Darin liegt keine Ansprüchlichkeit sondern eine große Wertschätzung für die Erwachsenen: Wir sollten doch froh sein, wenn die lebendige Zukunft mit uns was anfangen will! Statt über Plänen zu brüten, von denen wir nicht wissen, ob unsere Kinder sie einmal toll oder bescheuert finden werden. – Aber wahrscheinlich werden wir den Wert des Kontaktes zu unseren Kindern erst in dem Maße erkennen, wie die jungen Leute im Internet unter sich oder mit PC-Spielen für sich bleiben und den Kontakt zu uns Erwachsenen wegen der Unbeholfenheit unseres Interesses an ihnen nur noch als langweilig erleben.

(2.3.7) Es soll vielleicht nicht alles erdeutet werden. Der Dichter hat uns mit den „seligen Knaben“ einfach aufgegeben, über das Leben nachzudenken angesichts eines Kindes, das bei der Geburt stirbt: eine Meditation über das Leben, ausgehend von der Vorstellung einer entgangenen Existenz, einer vorenthaltenen Chance, die Kräfte des Lebens zu erleben, den eigenen Potentialen Sinn zu geben, und die Fragen des Daseins zu stellen. („Den Tod, den ganzen Tod noch vor dem Leben so sanft zu enthalten und nicht bös zu sein, ist unbeschreiblich“ (Rilke, 4. Duineser Elegie).) – Auf diese Weise sind die seligen Knaben „für die Engel“ (für unsere geistige Kultur) „zum Gewinn“.

 

(2.4) Mater Gloriosa

Fast alle Menschen sind mit der instinktiven Erwartung ausgestattet, verläßlich Schutz, Versorgung und Trost finden zu können bei Mama.

Die christliche, von Männern dominierte Religion, hatte gegen Mama keine Chance: Subversiv haben sich die antiken Muttergottheiten mit gefälschtem Marienausweis als illegale Einwanderer in die monotheistische Männerwelt geschummelt und dort weit mehr Bedeutung bekommen, als den Kirchenvätern lieb war.

„Maria breit den Mantel aus, mach Schutz und Schirm für uns daraus, laß uns darunter sicher stehen, bis alle Stürm vorüber gehen“ heißt es in einem Kirchenlied. – Auf ähnliche Weise erwarten schon die Jungen der niedrigsten Säugetiere, daß auf ihr Piepsen Mama herbei eilt und ihr Fell über sie ausbreitet. Kein Wunder, daß gegen einen stammesgeschichtlich so archaischen Instinkt die frommen Väter machtlos waren.

Die Mater Gloriosa ist in der Volksfrömmigkeit der Inbegriff der mütterlichen Liebe: Sie heilt Krankheiten, hilft gegen Naturkatastrophen und mildert die Strenge ihres richtenden Sohnes: Es gibt Darstellungen, wie sie beim jüngsten Gericht heimlich auf die Waagschale drückt, damit der Sünder nicht in die Hölle muß.

„Klagen und Tränen stumpfen ihre Zärtlichkeit nicht ab, denn sie leidet ja mit uns. Sie kann unsere Flecken tilgen und unser Herz rein machen, damit wir ihre Barmherzigkeit und ihre Liebe empfangen. Unsere Jungfrau, unsere Mutter, die nichts von unseren Sünden wissen will, die die Schuld unserer Sünden auf sich nimmt, die uns auf ihren Armen tragen möchte, damit das Leben uns kein Leid antut – sie ist hier unter uns und lindert unsere Müdigkeit und heilt die Krankheiten unserer Seele und unseres von Dornen starrenden, wunden und flehenden Leibes“ (aus einer mexikanischen Erzählung von 19535).

Die Verehrung von Jungfräulichkeit wirkt für uns heute abstrus. Aber Jungfräulichkeit ist eine Chiffre für Distanz: Maria hat dadurch, daß sie nicht alles „Natürliche“ mitmacht, Distanz zu sich und anderen, sie ist nicht verstrickt in Beziehungsgeschichten, und sie ist nicht verstrickt in die natürliche Selbstbezogenheit.

 

(2.5) Dr. Marianus I

Der Dr. Marianus widmet sein Leben einer in jeder Beziehung unerreichbaren Frau. Er verkörpert eine Botschaft, die wir heute nicht gerne hören: Verzicht lohnt sich, man muß nur wissen, wie. – Für Kaufleute ist das eine Horrorbotschaft und sie tun alles dafür, sie nicht unters Volk kommen zu lassen, deshalb hat das Wort „Verzicht“ in unserer heutigen, durch Kaufleute geprägten Kultur, einen so unguten Klang, es klingt nach Spaßbremse, Zugeknöpftheit und Genußunfähigkeit.

Die Worte des Doktors an die Muttergottes sind so umschreibbar: „Zeige mir, wie man das macht, wahrhaft zu lieben. Und solange wir´s nicht begriffen haben, billige bitte, was wir Kerls an Liebe leisten können. Schau doch, wie sehr wir eigentlich für die Liebe gemacht sind: wie stark sie uns anstachelt und befriedet.“

Rilke spricht das so aus: Die Frauen „haben Jahrhunderte lang die ganze Liebe geleistet, sie haben immer den vollen Dialog gespielt, beide Teile. Denn der Mann hat nur nachgesprochen und schlecht. Und hat ihnen das Erlernen schwer gemacht mit seiner Zerstreutheit, mit seiner Nachlässigkeit, mit seiner Eifersucht, die auch eine Art Nachlässigkeit war. Und sie haben trotzdem ausgeharrt Tag und Nacht und haben zugenommen an Liebe und Elend. … Aber nun, da so vieles anders wird, ist es nicht an uns, uns zu verändern? Könnten wir nicht versuchen, uns ein wenig zu entwickeln, und unseren Anteil Arbeit in der Liebe langsam auf uns nehmen nach und nach? Man hat uns alle ihre Mühsal erspart… Wir sind verdorben vom leichten Genuß wie alle Dilettanten und stehen im Geruch der Meisterschaft. Wie aber, wenn wir unsere Erfolge verachteten, wie, wenn wir ganz von vorne begännen die Arbeit der Liebe zu lernen, die immer für uns getan worden ist? Wie, wenn wir hingingen und Anfänger würden, nun, da sich vieles verändert?“ (Rilke 1910).

 

(2.6) Die Gute Seele

Wer ist die gute Seele, die sich einmal vergessen hat? Faust oder Margarete? Wie kommen die Interpreten darauf, es sei Margarete?

(2.6.1) Wie passt das denn: sie ermordet ihr Baby und ahnt nicht, daß das falsch ist? Selbst wenn gemeint wäre, daß sie im Affekt nicht wußte, was sie tat, klänge es komisch, hier das Wort „ahnte“ zu verwenden. – Auf Faust würde das viel besser passen: Bei der Wette mit dem Teufel befand er sich in einer schweren depressiven Episode, er konnte in diesem Zustand nur diese eine Möglichkeit der Entscheidung sehen und hatte keine Ahnung, wieviele bessere Alternativen es gegeben hätte.

(2.6.2) Und außerdem: Im Epilog geht’s doch um Faust! Was soll jetzt auf einmal der Sündenablaß für Margarete? Ihre Sünde ist mehr als ein halbes Jahrhundert her! – „Ja, das heißt nix, im Himmel gelten andere Zeitregeln, das kann man gar nicht miteinander vergleichen!“ – Schön. Das wäre eine Zusatzannahme, die eine weitere nach sich zöge: Margarete stellt fest, daß Faust vom „neuen Tag“ geblendet ist. Ihr scheint dieser Tag nicht neu. Das müßte dann auch erklärt werden.

(2.6.3) Und was wär das für ein wenig vertrauenerweckendes Verhalten: Kaum haben die andern Büßerinnen Margarete Maria vorgestellt und für sie um Verzeihung gebeten, schmiegt sich die bis dato ganz unbekannte Sünderin an die Cheffin und bitte um Verzeihung für den Freund, der noch viel schlimmere Dinge auf dem Kerbholz hat? – Das Anschmiegen wäre viel glaubwürdiger, wenn zwischen Margarete und der Mater Gloriosa schon länger ein ungetrübtes Verhältnis wäre, nicht erst seit einem Augenblick.

(2.6.4) Und wenn Gott Faust für das Exemplar eines guten Menschen hält (Prolog), dann darf er hier von den Büßerinnen als „gute Seele“ bezeichnet werden, das ergäbe sich allein aus der gebotenen Solidarität unter Büßern – abgesehen davon könnten die Büßerinnen die Worte „dieser guten Seele“ auch ironisch betonen.

(2.6.5) Daß für Margarete gebeten würde, hätte szenischen Sinn, wenn die Büßerinnen die Muttergottes hier gerade erst getroffen hätten, statt daß sie schon die ganze Zeit zusammen mit ihr hier rumschweben. Etwa so: Margarete kommt mit ihren Schuldgefühlen nicht klar, wendet sich an Profi-Büßerinnen, die wissen sich auch keinen Rat mehr und sagen schließlich: „Du mußt unbedingt Maria treffen, die kann dir weiterhelfen. Die schwebt da gerade im Gebirge rum, um so´nen schmierigen Kerl zu erlösen, der sich ganz selbstgefällig was drauf einbildet, nicht selbstgefällig zu sein!“ – Aber was für ein Zufall wäre es dann, wenn die Gelegenheit für Margarete, die Muttergottes zu treffen, mit Fausts Rettung zusammenfiele!

(2.6.6) Welchen Aussagewert hätte es, wenn Margarete sich für Faust einsetzte? Sie ist befangen gegenüber ihrem ehemaligen Geliebten! Da denkt doch jeder: „Ist doch klar, die will ihn wiederhaben, die stecken doch buchstäblich unter einer Decke!“ – Die Alt-Büßerinnen haben dagegen kein persönliches Interesse an dem Kerl. Der kann ihnen völlig egal sein. Dennoch haben sie ein ganzes Wochenende Stinkrosen gebastelt und sind stundenlang im kalten Gebirge rumgeschwebt, um die Teufel zu beschmeißen. Die hätten es sich vor dem Fernsehschirm des Himmels wirklich bequemer machen und all die Fortsetzungsserien der menschlichen Kommödie weiterschauen können! Allein aus Solidarität haben sie sich für den armen Sünder engagiert. Ihre Bitte hat einen ganz anderen Aussagewert als die Margaretes!

(2.6.7) Hinzu kommt: Die biblischen Büßerinnen sind Meisterinnen im Büßen, Margarete ist Azubine. Sie sind Prommi-Büßerinnen, Margarete eine no-name-Büßerin. Würde Margarete mitbitten, könnte die Muttergottes denken: „Was will die überhaupt, die weiß doch noch gar nicht, was Buße wirklich ist, wie will die einschätzen, was es bedeutet, einen Kerl wie Faust, mit so ´ner riesen Bußlast ins Boot zu holen! Noch von nix ne Ahnung haben und gleich glauben, mitbitten zu können!“

(2.6.8) Es ist auch nicht einsichtig, weshalb die bis jetzt auf Margaretes Begnadigung gewartet haben sollten – zumal Margarete ja – im Gegensatz zu Faust – bereits Verantwortung übernommen hat und längst als „Gerettet“ klassifiziert worden ist. – Oder soll das heißen: Wen Gott gerettet hat, dem hat die Muttergottes noch lange nicht verziehen? Was für eine nachtragende Tante wäre sie dann! – (Ein Philologe meinte zu diesem Problem: Das „Gerettet“ beziehe sich nur auf den Kindsmord. Der voreheliche Beischlaf sei noch ein offener Posten auf dem Schuldkonto. – Ein anderer: Da Margarete kein Verzeihen mehr braucht, weil sie gerettet ist, könnte es ja sein, daß die Büßerinnen Maria darum bitten, daß sie Margarete ihre Fähigkeit zu Verzeihen ausleiht, um Faust zu verzeihen 6.)

(2.6.9) Schließlich: was soll dagegen sprechen, daß die Büßerinnen Faust meinen? Die sind so nah an ihm dran, daß sie den armen Sünder am Ohr unter die Augen der Gottesmutter ziehen können. Zudem soll die Gottesmutter ihm nur ja nicht mehr Verzeihung gewähren, als angemessen. – „Angemessen“: Das Wort sticht heraus wegen seines aggressiven Gehaltes: Ein Maß begrenzt. Würde sich das auf Margarete beziehen, klänge es nach schwelendem Zickenkrieg: „Die darf dann aber auch nicht mehr kriegen als wir!“

Die Interpretation, daß die Büßerinnen sich für Margarete einsetzen, ist schon immer über das „angemessen“ gestolpert: Zu soviel Mitgefühl, wie Margarete auslöst, passt solche Knauserigkeit nicht. Das ließ die Philologen einen Schreibfehler vermuten: daß es „un-“ statt „an-gemessen“ heißen sollte. Eine weitere Zusatzannahme. Und eine blöde: Es entgeht die Pointe, daß im Himmel zwar Gnade vor Recht ergeht, aber nicht grenzenlos! Die Löwen sind zahm aber nicht zahnlos. – Die haben professionelle Sozialarbeiterinnen dort, keine unprofessionellen!

(2.6.10) Und falls Goethe wirklich Margarete gemeint haben sollte, ist er selbst schuld: warum hat er das nicht hingeschrieben? Das wäre einfach eine Panne, einen simplen Sachverhalt so unzureichend auszudrücken, daß Generationen von Gelehrten scharfsinnig spekulieren müssen und keine eindeutige Lösung finden.

 

2.7. „Wer immer strebend sich bemüht“: Fausts Erlösung

2.7.1 Was heißt: „Wer immer strebend sich bemüht“?

Gemeint sind sicher nicht Streber, also Leute, die besonders zwanghaft die bestehenden Normen erfüllen. Sondern gemeint ist: bestrebt zu sein, wie ein Mensch zu leben, d.h. die besonderen Möglichkeiten des Menschen zu nutzen, um der Würde, die uns wegen unserer Potentiale eigen ist, gerecht zu werden. Das leisten offenbar die „guten Menschen“, von denen Gott im Prolog sprach. Faust ist so ein guter Mensch, auch wenn er viel Schlechtes getan hat.

Doch das Schlechte geht auf das Konto der Rutschigkeit: „Wie entgleitet schnell der Fuß schiefem, glatten Boden!“ doziert der Doktor Marianus, als er die Muttergottes mit den Büßerinnen einherschweben sieht.

Wir tun immer leicht so, als seien die Böden der andern nicht schiefer als unsere eigenen. Aber wie schief der Boden wirklich ist, auf den das Schicksal einen Fuß setzt, kann kein anderer Fuß ermessen. – Der Philosoph Wittgenstein fand ein anderes Gleichnis dafür: „Du erinnerst mich an einen Menschen, der aus dem geschlossenen Fenster schaut und sich die sonderbaren Bewegungen eines Passanten nicht erklären kann; er weiß nicht, welcher Sturm draußen wütet und daß dieser Mensch sich vielleicht nur mit Mühe auf den Beinen hält“  7.

Möglicherweise ist die moralische Güte bei allen Menschen gleich, nur die Gewichte und Gegengewichte im Spiel der Kräfte, Zug und Gegenzug, Trieb und Sinn, sind unterschiedlich ausgeprägt.

Wenn es den „freien Willen“ gibt, unterliegt er einer Art „Hebelgesetz“: So wie ein Hebel nur Lasten bewegen kann, wenn die Länge des Hebels und der Winkel stimmt, kann der „freie Wille“ nur wirksam werden, wenn er an der richtigen Stelle und unter den richtigen Bedingungen ansetzt. Süchtige z.B. können in der Regel nicht einfach so, per „freier Willensentscheidung“, eine stabile Abstinenz etablieren. Sie müssen ihren Lebensstil verbessern, ihre „emotionalen Reaktionsbereitschaften“ besser verstehen und bewältigen lernen, und die eine oder andere Kompetenz entwickeln, z.B. zu flirten, auch wenn man im nüchternen Zustand dabei immer rot wird.

Jedenfalls: Wir können nie wissen, ob jemand nicht besser gewollt oder nicht besser gekonnt hat. Moralische Urteile sind nicht möglich.

Diese Erkenntnis ist relativ neu. Das alte Testament kennt sie noch nicht. Das neue schon. Vorher gab es sie bereits in Griechenland (Theorie vom Verlust der sittlichen Einsicht) und Indien (Buddha). – Der Gott des alten Testaments ist noch zornig und hält Rache für okay, sofern die Regel „Auge um Auge“ gewahrt wird. (Obwohl es im Judentum auch andere Töne gibt: „Es darf uns nicht darum gehen, Gerechte zu finden, sondern für die Sünder Gnade zu erflehen. Abraham suchte Gerechte und so mißlang sein Unterfangen. Mose aber betete: “Vergib doch der Verfehlung dieses Volkes“8).

2000 Jahre sind für den Teufel keine lange Zeit. Deshalb kann er sich noch so echauffieren über den modernen Quatsch: über das neue zivilisatorische Lernniveau, das nicht mehr moralisch wertet und dem Teufel nichts mehr gönnt: „Herkömmliche Gewohnheit, altes Recht, man kann auf gar nichts mehr vertrauen!“ (Vers 11621) –

2.7.2 Reife und unreife Menschen

Ich denke, Goethe würde heute nicht von „guten“ sondern von „seelisch ausgereiften“ Menschen sprechen.

Was ist ein „seelisch ausgereifter“ Mensch? Diese Frage würde ein ganzes Buch erfordern. Aber vermutbar ist, daß auch hier die „Gaußsche Normalverteilungskurve“ gilt: 70 Prozent aller erwachsenen Menschen sind normal reif, 15 Prozent sind überreif und 15 Prozent unreif.

Faust ist ein reifer Mensch, aber einer, der durch seine Autonomie, seine Fähigkeit, eigene Wege zu gehen, besonders gefährdet ist, auf Abwege zu geraten. – Und Goethe will zeigen, daß es auf solche „Irrtümer“ nicht ankommt, egal was sie an Schlimmem anrichten, sondern daß es allein darauf ankommt, bestrebt gewesen zu sein, würdig zu leben. – Gott erwählt einen Menschen wie Faust, um dem Teufel die Macht der Würde zu zeigen, die uns trotz der folgenreichsten Wirrnisse immer wieder auf den richtigen Kurs zurückführt.

Genaugenommen handelt es sich im Epilog also um den Himmel für reife Menschen, sozusagen den Himmel für Fortgeschrittene.

Was ist mit den andern, mit Hitler, mit den Psychopathen, mit den Ichsüchtigen, mit den skrupellos Macht- und Geldgierigen? – Ich schätze, das ist hier nicht Goethes Thema. Aber aus dem, was wir hier sehen, läßt sich ableiten, daß auch die erlöst werden, denn die haben sich nicht ausgesucht, so zu sein oder so zu werden. Wir, im Bauch der Normalverteilungskurve, haben bloß Glück gehabt, durch geringere Rutschigkeit unsers Bodens nicht an den Rand geraten zu sein. Unsere Reife ist nicht unser Verdienst.

Bei jemandem wie Faust ist’s einfach, da kann man die unvollendeten Engel, die Azubis, ran lassen. – Unreife Menschen können nur von erfahrenen Meister-Engeln aus den Klauen des Teufels befreit werden. Und danach wird noch ein Sonderförderprogramm zur Nachreifung nötig sein, sonst werden sie von den seligen Knaben nach Strich und Faden verarscht.

Mehr dazu im:  [Anhang 2 Die Bösartigkeit der reifen und die der unreifen Menschen]

 

(2.8) Dr. Marianus II

Auf dem Hintergrund der katastrophalen Kollektivismen des 20. Jahrhunderts mutet das Schlußgebet des Dr. Marianus mit seiner Forderung nach Unterordnung, Selbstanklage („Reue“) und Dienstfertigkeit gruselig an. Doch im Kontext des vorhergehenden Geschehens der tätigen Liebe gesehen und in entreligiösifizierter Sprache ausgedrückt, sagt der Doktor etwa:

„Wer du auch bist: einer Gemeinschaft, in der wahrer Zusammenhalt herrscht, bist du nicht egal [„Retterblick“]. Das Leben auf die Gemeinschaft ausrichten [zum Retterblick „aufblicken“] bedeutet: sich für den Zusammenhalt zu engagieren [Dienst erbieten] und die Gemeinschaft als etwas anzuerkennen, das dir als Einzelnem überlegen ist und dem gegenüber eine gewisse Unterordnungsbereitschaft sinnvoll wäre [„aufblicken“]. Erforderlich für den Erfolg des Engagements ist Selbstkritik mit Veränderungsbereitschaft [Reue] und Zurückhaltung [„Zartheit“, die rücksichtsvolle Bereitschaft, eigene Ansprüche herunter zu schrauben]. In der idealen Gemeinschaft stellen die Einzelnen Sinn über Trieb (Jungfräulichkeit), sind fürsorglich für einander engagiert (Mütterlichkeit), anpassungsbereit (der Königin untertänig) und erleben den Zusammenhalt als einen der höchsten Werte (Göttin)“.

Wir sind von Natur aus gut (der „gute Mensch“, die „gute Seele“), aber das reicht nicht, um die Potentiale, die im Zusammenhalt schlummern, zu entfalten. Dazu braucht es einen „besseren Sinn“, einen Sinn, der durch Kultivierung über seine Natürlichkeit hinaus wächst. – Gott hat Unrecht: das Bewußtsein für den rechten Weg reicht nicht. Der Gute Wille kann die bösartigsten Formen annehmen: selbst Terroristen folgen nur ihren Gewissensentscheidungen. Augustinus hat Recht: Wir können allein, aus eigener Kraft, ohne „Gott“, den rechten Weg nicht finden. Wir brauchen die rechte Ausrichtung auf die Gemeinschaft („Gott“): wir brauchen einander zur „Kurskorrektur“.

Im Gebet des Kollegen ist Faust am Ziel: das Gute gesteht ein, daß es nicht hinreicht, und disqualifiziert das Bessere nicht länger als Trug und Wahn.

[Anhang 3: Gegen Mißverständnisse des Individuellen und Überindividuellen]

 

(2.9) Chorus Mysticus

Der Chorus Mysticus stimmt einen Lobgesang an auf das, was er hier beobachtet. Seine Zeilen sind nicht Kommentar sondern Ausdruck: Ausdruck des Staunens und der Freude:

Ewig-Weibliches und Ewig-Männliches: Ewig weiblich und ewig männlich sind allein die Probleme, die aus den unterschiedlichen körperlichen Chancen entstehen. – Wie wir es auch immer sonst noch verstehen wollen: wir können es auf eine Weise verstehen, die Frauen und Männer nicht auf Rollen festlegt – denn Rollenfestlegungen wären selbst in dem Fall, daß es tatsächlich biologisch konstituierte Wesensunterschiede zwischen den Geschlechtern geben sollte, ein „naturalistischer Fehlschluß“ [Mehr dazu im Anhang 4].

Es lassen sich immer entgegensetzbare Einstellungen finden, egal ob und wie wir sie symbolisch als „Männlich“ und „Weiblich“ kategorisieren : Das Forsche und das Fürsorgliche; das Aktive und das Rezeptive; das Technische und das Soziale; das Zielstrebige und das Umsichtige; das Erfolgsorientierte und das Verständigungsorientierte; das: „Man muß die Welt doch voran bringen!“ und das: „Es müssen doch alle satt werden!“

Ob eine Einstellung besser ist als die andere, sagt der Dichter nicht. Nur daß die eine uns hinan zieht, die andere nach vorne. In einem mehrdimensionalen Raum ist die eine nichts ohne die andere. Das auszusprechen ist Blasphemie in einer Kultur, die geprägt ist von einem „selektiven Muster von Rationalisierung“ (Habermas), das individuell zurechenbare technische Potenz infantil glorifiziert: „Guck mal Mammi, das hab ich ganz allein gemacht!“

Das „ewig Weibliche“ steht für das, was Faust mangelt: für soziale Intelligenz und kommunikative Rationalität.

„Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“: Wir brauchen nicht mehr zu wissen, als zum Überleben der Gattung nötig. Deshalb erkennen wir auch nicht mehr von der Wirklichkeit, als wir an Wirkung brauchen. Das, was darüber hinausgeht, bleibt uns verborgen. Bestenfalls lassen sich gigantische Maschinen bauen, wie das CERN, die Phänomene erzeugen, aus denen wir zu erschließen versuchen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Aber: „was sie uns nicht offenbaren mag, das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben!“ Egal wie weit wir im Zerlegen kommen: Struktur und Dynamik können wir immer nur fallibel und modellhaft, also „vergänglich“ und „unzulänglich“ erschließen. (Aber die Art, wie wir es erschließen, könnten wir ins Museum stellen als „ready made“: zur poetischen, „anmutigen“ Anschauung der Findigkeit des Menschen. Auch so würde das Vergänglich-Unzulängliche „Ereignis“.)

Am Konkreten zeichnen sich Strukturen und Prozesse des Daseins gleichnishaft ab. – Auf welches Konkrete bezieht sich der Chor hier? Auf Fausts Leben und auf seine Erlösung. Sein Leben offenbart etwas von den Konflikten des Menschen. Selbst seine Fehler sind Erkenntnisgewinn, sie offenbaren etwas von den wirkenden Kräften, mit denen wir Menschen es im Leben zu tun kriegen. – In der Erlösung Fausts zeigt sich die Macht des Menschen im Erkennen und Überwinden. – So offenbart etwas Vergänglich-Menschliches etwas vom Ewig-Männlich- und -Weiblichen.

„Das Unzulängliche, hier wird es Ereignis“:  Anderswo ist das Unzulängliche kein Ereignis, hier schon. Was normalerweise nicht der Aufmerksamkeit wert ist: hier zieht es sie auf sich. – Wodurch? – Hier wird verziehen. Hier werden Unvollkommenheiten eingestanden. Hier werden Fehler nicht bewertet sondern erforscht. Hier übt man Abstinenzen: Der Pater Seraphikus hilft völlig selbstlos, der Pater Ecxtaticus will niemand bestimmtes sein und ist bereit, sich alle Identitäten zerschmettern zu lassen, und Margarete verzichtet darauf, es Faust heimzuzahlen (z.B. in Form eines Umgangsrechtkriegs um die seligen Knaben: „Na warte du Arsch, du sollst mich kennenlernen, dir werd ich es zeigen! Du wirst die Kinder nie wieder sehen!“).

Hier muß nicht zwischen „Zulänglichem“ und „Unzulänglichem“ unterschieden werden, weil es hier – im Gegensatz zum Handlungsdruck in Konkurrenzgesellschaften – völlig unsinnig wäre, Vorteile zu ergattern und „heranzuraffen“. Hier hat man sich von diesem Handlungsdruck so weit wie es geht emanzipiert. Hier gibt es kein „gut“ und „schlecht“. Darin besteht der „bessere Sinn“. Dadurch gerät das Unzulängliche, das Normale, Wahrscheinliche und Erwartbare, das im Alltag keiner besonderen Aufmerksamkeit wert ist, in ein anderes Licht: Es wird nicht mehr funktional bewertet, sondern in seinem Eigenwert betrachtet, ähnlich wie John Cage, der die Emanzipation des Geräuschs in die Musik einführte, auf die Frage eines Reporters, ob das Quietschen der Tür auch Kunst sei, antwortete: „If you celebrate it, it´s art“; ähnlich wie von Zen-Meistern erzählt wird, daß Alltags-Ereignisse sie zur Erleuchtung brachten: das Klackern eines beim Fegen aufgewirbelten Steinchens.

„Das Unbeschreibliche, hier ist es getan“. – Das Vergängliche und Unzulängliche ist das Beschreibliche, in dem das Unbeschreibliche gleichnishaft präsent ist. Hier wird etwas von diesem Unbeschreiblichen getan, konkretisiert. Das gelingt offenbar sehr selten, sonst würde der Chor hier nicht so staunen. (Vielleicht standen die Choretiden, bevor sie in Jubel ausbrachen, mit offenen Mündern da, wie die Fans einer Regionalmannschaft, die sich kurz vor Schluß mit einem entscheidenden Tor in die zweite Liga spielt.)

In diesem Konkretisierten, in der tätigen Liebe zwischen den Menschen, kommt das Göttlich-Unbeschreibliche offenbar besonders erstaunlich zum Ausdruck: in der Bereitschaft, sich über sich selbst zu desillusionieren – in der Bereitschaft, aus der Schuld sich eine Pflicht zu machen (Buße) – im Verzeihen – in der Art und Weise wie man sich hier gegenseitig uneigennützig zur Hand geht (Kooperation) und schließlich in der Solidarität: im Zusammenhalten gegen ein gnadenloses Schicksal, das jedem Paar Füße anders schiefen Boden unterschiebt.

 

Überblick über das Drama: Deutende Inhaltsangabe – – – Zum Faust-Pfad (Überblick über alle Artikel)

 

Anhänge

[1] Theologische Askesekritik

Keine Zeit für die Liebe zu den Menschen zu haben ist bei religiösen Perfektionisten offenbar kein unbekanntes Phänomen: „Was hast du gesagt? Es gilt dir nichts, deine Seele für die endlose Ewigkeit zu verderben, nur um in diesem flüchtigen Leben einem anderen zu helfen!“ (Aus: N. Leskow, Der Gaukler Pamphalon).

Für Thomas von Aquin kam es auf die Liebe an, nicht auf Askese, Askese war nur eine mögliche Methode der Liebe. – Und Luther sah in der Askese die Gefahr, den falschen Schein zu erwecken, „als ob die eigentliche Sünde vom Fleische, vom leiblichen Sein herkomme – statt aus dem ungläubigen Herzen“; und daß „das augenfällige oder gar sensationelle asketische Leben nur allzuleicht zum Ausdruck geistlicher Eitelkeit und Selbstgefälligkeit“ werden könne. (Refereriert aus dem Artikel „Askese“ in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1, S. 646.).

Weitere Askesekritik findet man bei M. Buber (Vorwort zu den „Erzählungen der Chassidim“). – Weitere „Eremitenpoesie“ bei Hermann Hesse („Der Beichtvater“ und „Indischer Lebenslauf“ aus dem „Glasperlenspiel“); und bei Thomas Mann („Die vertauschten Köpfe“).

 

[2] Die Bösartigkeit der unreifen und die der reifen Menschen (Lesezeit 3 Minuten)

Unresozialisierbare Schwerverbrecher sind ein Prüfstein für die Solidarität einer Gesellschaft. Sie wollen als Mensch unter Menschen existieren aber sie sind so extrem ich-bezogen daß sie dem, was eine Beziehung erfordert, skrupellos zuwider handeln und nicht gemeinschaftsfähig sind. Sie sind berechnend, nutzen aus, instrumentalisieren, lassen anderen nicht ihr eigenes Leben, manipulieren, verletzen, zerstören, morden. – Aber sie haben sich nicht ausgesucht, so zu sein.

Es geht nicht darum, ihnen den freien Willen abzusprechen. Sondern darum: daß bei ihnen in  die Gegenkräfte gegen die Triebe weit geringer sind, als bei uns, Gegenkräfte, ohne die Freiheit des Willen – so es sie gibt – gegen die Macht der Triebe keine Chance hat. – Wir „normalen“ Bürger würden es doch gar nicht schaffen, richtig böse zu sein! Wir können uns doch nicht etwas darauf zugute halten, gut zu sein, wenn wir gar nicht anders können! Das ist billig und wurde von Wilhelm Busch mit Spott abgestraft:

»Das Gute – dieser Satz steht fest –
Ist stets das Böse, was man läßt!«

»Ei ja! – Da bin ich wirklich froh!
Denn, Gott sei Dank! Ich bin nicht so!!«

(Quelle: https://www.projekt-gutenberg.org/wbusch/helene/helenei1.html)

Das ist die moralische Perversion des Spießers, denn es ist umgekehrt: das Böse ist das Gute das man läßt. – Daß wir einen Menschen nicht ermorden können: ist das wirklich unser Verdienst? Was haben wir denn dafür getan, daß unser Egoismus enge Grenzen hat und wir so beziehungsfähig sind, wie wir sind? Wir tun ja gerade so, als müsse man das in der Schule üben wie das Einmaleins und wir hätten immer brav unsere Hausaufgaben gemacht, während die Verbrecher bloß am Fernsehen abgehangen hätten.

Es gibt keine bösen Menschen, nur gefährliche. Gegen die müssen wir uns schützen. Aber wir müssen es so tun, daß wir ihr Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit nur so minimal einschränken, wie unser legitimes Schutzbedürfnis es erlaubt. Eine Sicherheitsverwahrung darf keine Strafe sein. – Das geht uns gegen den Strich, weil viele dieser Verbrecher sich einen Dreck um die freie Entfaltung unserer Persönlichkeit scheren würden. Aber das darf keine Rolle spielen.

Wie relativ die Gefährlichkeit von Menschen ist, sieht man an Faust: Faust tötet fahrlässig Margaretes Mutter, ihren Bruder schlägt er im Duell tot, Margarete läßt er schwanger im Stich, obwohl er weiß, daß sie dann aus der Gemeinschaft ausgestoßen wird. Nach dieser privaten Katastrophe manipuliert er die Finanzmärkte, stürzt damit ein Land in einen Bürgerkrieg, mischt in diesem Krieg mit, um als Kriegsgewinnler ganz groß raus zu kommen, wird durch Verstrickung in Piraterie reich und siedelt Einheimische so effektiv um, daß sie ums Leben kommen.

Aber Faust ist keine dissoziale Persönlichkeit. Er könnte nicht einer Rentnerin auf den Kopf hauen um ihr die Handtasche wegzunehmen. Er könnte nicht eine Frau entführen, in einem Keller einsperren, sie monatelang sexuell mißbrauchen und hinterher umbringen. Das könnte Faust alles nicht. – Auch Eichmann oder Himmler hätten das wahrscheinlich nicht gekonnt. (Beispielhaft beschrieben im Roman von Robert Merle über den Kommandanten von Auschwitz: „Der Tod ist mein Beruf“.)

Weiterlesen:

Von der Kriminalität Fausts handelt die Kurzgeschichte: „Schief gewickelt, Faust erzählt straffälligen Jugendlichen von seinen Untaten und Irrtümern“.

Vom Thema moralfreie Erlösung handelt auch D. Seefelds Geschichte: „Subversion im Himmel“.

Über Erkenntnisse der Hirnforschung zur Beeinträchtigung von Schwerkriminellen und die Entwicklung von Trainingsmöglichkeiten: Interview mit Niels Birnbaumer im Spiegel 24/2014 S.118.

 

[3] Das Individuelle und das Überindividuelle

Wir brauchen das Überindividuelle, um Individuum sein zu können. Allein wären wir nicht einmal zur Sprache fähig: Der Philosoph Wittgenstein verneinte die Möglichkeit einer „privaten“ Sprache, einer Sprache, die man alleine erfindet und nur für sich selbst hat. Denn er fragte sich, wie man sich alleine daran erinnern könne, was genau man einmal mit einem Wort gemeint habe – man könne ja nie wissen, ob man sich richtig erinnere, denn eine Erinnerung könne eine andere nicht korrigieren: „Es wäre, als kaufte man sich zwei Exemplare einer Zeitung, um zu kontrollieren, ob sie auch die Wahrheit spricht.“

Daß Individualität nicht ohne das Überindividuelle möglich sei, klingt unheimlich angesichts der totalitären Kollektivismen des letzten Jahrhunderts: Hitler, Stalin und Mao, der Volksgemeinschaft und der Diktatur des Proletariats.

Kennzeichen von Kollektivismen ist ein demagogischer Taschenspielertrick: die Erfindung eines Feindes. Ein Zusammenhalt, der nur mit einem Feind, einer äußeren Bedrohung funktioniert, braucht Denkverbote: Jeder, der an der herrschenden Auffassung von der Bedrohlichkeit der Bedrohung zweifelt, ist dumm, faul, feige oder böse.

Ein weiteres Indiz für archaische, irrationale Gemeinschaftsbildung ist es, den Mitgliedern kein eigenes Leben zuzugestehen: die Hingabe an „den Führer“ oder der Kampf gegen den Klassenfeind müssen bedingungslos sein. Wer nicht gehorcht, riskiert Ächtung. – Frag- und bedingungsloser Zusammenhalt gegen einen Feind, der Erbarmungslosigkeit verdient, ermöglicht institutionalisiertes Mobbing. Auschwitz zeigt, in welchen unfaßbaren Horror institutionalisiertes Mobbing kulminieren kann.

Jeder von uns ist eine Welt für sich, aber ohne die andern wären wir nichts. Beidem muß das Zusammenleben gerecht werden. Jeder muß nach seiner eigenen Facon selig werden können, wie der alte Fritz meinte, allerdings in einem Rahmen, in dem die Forderungen von Kooperation und Solidarität nicht verkannt, ignoriert oder kleinrationalisiert werden können, so wie im Kapitalismus, der behauptet, es sei das beste für alle, wenn jeder nur an sich denke. Andererseits darf die Solidarität aber auch nicht in die Köpfe hineinregieren, und Wünsche, Vorstellungen und Träume, sowie das Bestreben, sich damit eine eigene kleine, mit der Solidarität nicht unvereinbare Insel zu schaffen, als „kleinbürgerlich“ brandmarken.

(Ansätze von übergriffiger Kollektivität sehe ich bereits da, wo unter dem Motto „Liebe ist politisch“ bestimmt werden soll, was sich Liebende nicht zuflüstern dürfen, weil es diskriminierend sei.)

Möglicherweise hat es noch nie ein wirklich ausgewogenes Verhältnis von Individuum und Kollektiv gegeben. Immer scheint der Lauf der Dinge mal der einen, mal der anderen Seite zu viel Gewicht zu verleihen. Es ist die Entwicklungsaufgabe der Menschheit, eine wirkliche Ausgewogenenheit von Einzelnen und Gemeinschaft zu schaffen. Und es wird für immer ihre Aufgabe bleiben, diese Ausgewogenheit zu erhalten, da hat Faust recht: „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß“.

Allerdings: Gesellschaft ist nicht planbar. Jeder Plan beruht auf der Beschränktheit der Planer und wird zum Prokrustesbett, das alles abhackt, was in den Plan nicht paßt. Ein Plan enthält die Weisheit einiger Weniger, die Geschichte braucht die Weisheit aller. Daher kann ohne Demokratie nichts gut gehen. Das verkennt Faust mit seiner Vorstellung von „ein Geist für tausend Hände“.

 

[4]  „Naturalistischer Fehlschluß“: Von Hume so genannte Einsicht, daß aus dem Sein (den Naturgegebenheiten) kein Sollen (keine Moral) ableitbar ist. – Selbst wenn herauskäme, daß männliche Hirne besser zum Jagen, weibliche besser zur Kinderhege geeignet seien, heißt das gar nichts. Die Blagen müssen nicht immer von Mama verwöhnt werden und es muß auch nicht jeden Tag Braten geben. Unsere natürliche Ausstattung verpflichtet uns zu nix.

Interessant ist, in der Literaturgeschichte zu verfolgen, welche Dichter ein Gespür für die Tragik der Frauen hatten, daß sie sozialisationsbedingt ihre Potentiale nicht entfalten durften oder konnten. Goethes Margaretentragödie ist in diese Reihe zu stellen. Gut ausgeprägt findet man es bei Maupassant, Tolstoi, Tschechow, Rilke – und bei Nietzsche! Man hält Nietzsche immer für einen Frauenverächter. Aber wer genau liest, stellt fest, daß das Gegenteil zutrifft und er einfach nur erschüttert darüber war, was die patriarchalische Kultur damals aus den Frauen machte: lächerliche hysterische Hennen, die sich bestenfalls mit Intriganz ein wenig entschädigen konnten für das vorenthaltene Leben.

Link zu Wikipediaartikel über „Humes Gesetz“ und „naturalistischen Fehlschluß“

Literaturnachweise

(1) „Die Geschichte aller Religionen und Philosophien lehrt uns, daß diese große, uns Menschen unentbehrliche Wahrheit von verschiedenen Nationen in verschiedenen Zeiten auf mancherlei Weise, ja in seltsamen Fabeln und Bildern der Beschränktheit gemäß überliefert worden“ (Goethe nach Eibl 2000, S. 332). – „Hübsch und zart, wie die Katholiken mit ihren mythologischen Figuren das gläubige Publikum gar zweckmäßig zu beschäftigen und zu belehren wissen“ (nach Schmidt (s. nächste Anmerkung) S.289). – Ob Phorkyaden oder Maria: Goethe hatte zur christlichen Mythologie nicht weniger Distanz, als zur griechischen. Schmidt bestätigt: , „die mythologischen Erscheinungen erhalten den Status poetischer Metaphern“ (ebd.).

(1a) Schmidt, Jochen, Goethes Faust, München 1999, S. 294

(2) Anna Lee Walters, „Kommt meine Söhne“, in: Zukunft aus der Erinnerung, Indianische Erzählungen, Berlin-Weimar 1979 (Aufbau-Verlag). – Link zum englischsprachigen Wikipediaartikel über Anna Lee Walters

(3) Buber, Martin, „Hindernis“, aus: Die Erzählungen der Chassidim (1949), Neuauflage, Zürich 2014, S.400,

(4) Dornes, Martin: Der kompetente Säugling. Frankfurt a.M. 1993

(5) Juan Rulfo, Talpa. Aus: Der Llano in Flammen (Mexico 1953) Verlag Volk und Welt Berlin 1974 S. 65. – Rulfo ist eine Ausnahmeerscheinung in der Literatur: Er hat mit einem schmalen Werk von knapp 300 Seiten maßgeblichen Einfluß auf die gesamte Lateinamerikanische Literatur ausgeübt. (Quelle: Wikipedia, Rulfo)

(6) Die Beispiele sind aus Arens 1989 und Trunz 1949 (Kommentare zu den jeweiligen Versen)

(7) zitiert nach Mc Guinness, Wittgensteins frühe Jahre, Frankfurt a.M. 1992

(8) Buber, Martin. Die Erzählungen der Chassidim (1949), Neuauflage, Zürich 2014, S.622

Literaturangaben (sofern noch nicht angegeben)

Karl Eibl, Das monumentale Ich. Wege zu Goethes ›Faust‹, Frankfurt a.M. 2000

Arens, Hans: Kommentar zu Goethes Faust II. Heidelberg 1989.

Leskow, Nicolei, Der Gaukler Pamphalon. In: Meistererzählungen, Diederichs Leipzig 1952, S. 332.

London, Jack, Das Haus Mapuhis, in: Phantastische Weltliteratur, hrsg. von Jorge Luis Borges, Bd. 7

Rilke, Rainer Maria: Malte Laurids Brigge (1910), in: kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Frankfurt a.M. 1996, S.548ff

Trunz, Erich, Kommentar zu Goethes Faust, in: Goethe, Hamburger Ausgabe Bd. 3, 1949

 

Copyright:
Der Text ist urheberrechtlich geschützt. – Kopieren für den privaten Gebrauch ist gern gesehen. – Alles, was über das Zitieren hinaus geht, bedarf der ausdrücklichen Genehmigung. – Auch mit Nennung des Autorennamens darf dieser Text nicht ohne Lizenz „herausgegeben“ werden!
copyright-kontakt: www.goethesfaust.com

Unser Reim aufs copyright:

An die Worte und ihre Häscher

So schick ich euch den still und leise
Liebe Worte auf die Reise.
Es freut mich, wenn ihr nützlich seid,
Und jemand sich an euch erfreut.
Doch wenn euch jemand einfach stielt,
Fremden Namens mit euch dealt,
Dann seit nicht sauer, denket eher,
Mit fremden Federn fliegt sichs schwer.

Ein Tipp für den Gedankendieb:
Folg mal dem Sinn und nicht dem Trieb.
Und was ist schon daran so schwer,
Anzugeben, wo ists her?
Ein rechtes Wort am rechten Ort
Bringt immer Lob und zwar sofort.
Und wenn es auch nicht Deines ist,
So rühmt man wie Du kundig bist.

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