Berlin, 19.10.19
Sehr geehrter Herr Dr. Struwe,
Sie haben das deutsche Fernsehen maßgeblich mit geprägt, Sie kennen die mediale Dynamik, gegen die Sie den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk behaupten mußten. Ich, als Laie, kenne sie nicht.
Auf mich wirken die Bemühungen von ARD und ZDF, auf dem Aufmerksamkeitsmarkt konkurrenzfähig zu bleiben, wie das Handwerk einer Zivilisation, die ihre Dinge zwar findig aus immer neuen Kombinationen vorgefundener Naturstoffe zusammensetzen kann, aber noch keine Ahnung von den Möglichkeiten hat, Stoffe chemisch zu zerlegen und zu neuartigen Werkstoffen zu verbinden, mit denen völlig andere Dinge möglich sind. Ich frage mich:
- Auf welchen Überlegungen und Beobachtungen fußten die Vorstellungen davon, was geht und was nicht geht, was sinnvoll und machbar ist und was nicht?
- Wie wurden diese Vorstellungen hinterfragt, welche Fachdiskussionen gab es dazu mit Künstlern, Journalisten, Produzenten, Redakteuren, Geistes- und Sozialwissenschaftlern?
- Was wurde an Rezeptionsforschung betrieben, welche empirischen Belege gab es für Ihre Vorstellungen von den Bedürfnissen, Fähigkeiten und Bereitschaften der Zuschauer? – Die Quote belegt nur, was die Zuschauer von dem, was es gibt, bevorzugen, nicht, was sie wollen und können, und was sie von dem, was es noch nicht gibt, bevorzugen würden.
Möglicherweise sind meine Fragen „naiv“, aber das sind die Fragen, die sich einem Laien stellen, wenn er sich bei Programmstichproben darüber wundert, wie eine so reiche und reife Kultur, wie die unsere, für so teuer Geld so billiges Fernsehen macht. Ich kann nicht glauben, daß uns die Vorarbeit von Jahrhunderten nicht die Mittel an die Hand gibt, ein Fernsehen zu entwickeln, das Unterhaltung und „Bildung“ weit besser breitenwirksam verbindet.
Doch wenn jemand wie Sie, der bei Sontheimer promoviert und für Willy Brandt Reden geschrieben hat, unter den gegebenen Umständen die Strategie der Trivialisierung für sinnvoll hielt, dann wiegt das schwer und läßt vermuten, daß es tatsächlich anders nicht ging.
Ich würde gerne besser verstehen, wieso sich nichts anderes entwickelt hat, als das, was wir heute sehen. Gestatten Sie mir daher bitte folgende „Offene Fragen“:
(1) Was würden Sie Ihrem Vorgänger, Herrn Schwarzkopf, auf dessen Verwunderung erwidern, daß nach dem Film “ Das Boot“ Vergleichbares nicht „nachgekommen“ ist, obwohl es immer mehr Geld gab?
(2) Wieso ist aus dem Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk kein Labor für Forschung und Entwicklung geworden, das mit systematischen Experimentalreihen neue Formen findet, dokumentarisch, fiktional und interaktiv Werte, Wissen und Kompetenzen unserer Zivilisation im Rahmen dessen, was zur „prime time“ möglich ist, zu verbreiten, und konsequent relevante konfrontierende Fragen an Politik, Wirtschaft und Institutionen zu stellen?
Über eine Antwort oder Stellungnahme von Ihnen würde ich mich freuen.
Mit freundlichen Grüßen
Winfried Lintzen