Lara – von Jan-Ole Gerster

„Lara“ ist das Portrait einer Frau, deren Leben schiefgegangen ist, und deren unbewußte Strategie, ihren Schmerz darüber zu lindern, stets neue Wunden reißt. – Gerster zeigt hier ein weiteres Mal, wie gut er das menschliche Leben verstanden hat im Hinblick darauf, wie es gelingen und wie es mißlingen kann.

(1) Inhalt und Denkanstöße zur Interpretation

Lara verzichtete in der Jugend auf die Chance, Pianistin zu werden, weil sie fürchtete, nicht gut genug zu sein, um das zu erreichen, was sie gerne erreicht hätte. Stattdessen machte sie Karriere in der Stadtverwaltung, obwohl sie es haßte. – Sie unterrichtete ihren Sohn im Klavierspiel und ihr Sohn wurde Pianist und Komponist. An dem Tag, an dem ihr Sohn sein eigenes Klavierkonzert aufführt, verunsichert Lara ihn so stark mit abwertenden Bemerkungen über seine Komposition, daß es fast nicht zur Aufführung kommt.

Indem sie sich gegen den Pianistenberuf entschied, hat Lara sich vor Enttäuschung schützen wollen. Es war Selbstwertschutz. – Stellvertretend für sie sollte ihr Sohn dann Pianist werden, und sie drillte ihn offenbar ähnlich, wie sie selbst gedrillt wurde: mit Abwertungen. – Offenbar gefällt ihr jetzt nicht, daß ihr Sohn Komponist werden will, statt alle Energie in seine Pianistenkarriere zu stecken. Möglicherweise glaubt sie, daß er als Pianist bedeutender werden könnte.

Obwohl sie weiß, daß der Sohn vor der Aufführung Schutz und Unterstützung braucht, kann sie mit ihrer Kritik nicht an sich halten, weil sie unbewußt ihre eingelebte Strategie des Selbstwertschutzes abspulen muß, sie hat da keinen freien Willen. – Und offenbar hat sie nicht nur ihren Sohn sondern auch alle Freunde mit ähnlichen Abwertungen vergrault, so daß sie einsam und verbittert geworden ist.

Die Unausstehlichkeit Laras hat etwas Tragisches. – Laras Lebenstraum ist geplatz, nicht anders, als hätte sie beide Hände bei einem Unfall verloren. Im Unterschied zu einer Frau, die sich ebenso leidenschaftlich für Musik wie für Jura interessiert, aber glaubt, wenn sie sich auf Jura konzentriert, ihrem Leben mehr Sinn geben zu können, als wenn sie riskiert, eine bloß unterdurchschnittliche Pianisten zu werden, im Unterschied zu so einer Frau hatte Lara keine alternative Leidenschaft, für die sie sich entscheiden konnte. Lara hat nicht entschieden sondern vermieden – ähnlich wie jemand, der sich in Sehnsucht nach einer Partnerin verzehrt, aber aus Angst, einen Korb zu kriegen, Einsiedler wird.

Menschen wie Lara haben das Gefühl, vom Schicksal versagt zu bekommen, was ihnen einzig das Leben lohnend macht und das falsche Leben leben zu müssen. Damit konnte Lara nie Frieden schließen. Und die Strategie gegen den Schmerz war: andere abzuwerten, teils, um Aggression  und den Neid auf glücklichere Menschen auszuagieren, teils um sich durch Abwertung anderer wertvoller zu fühlen. Der Preis für die Strategie war: zu erleben, wie sich die Menschen von ihr abwenden, schließlich sogar ihr eigener Sohn. – Laras Mutter hat gut reden, wenn sie sagt, Lara hätte sich immer nur um sich selbst gedreht. Jemand, der starke chronische Schmerzen hat und ständig managen muß, daß sie nicht unerträglich werden, der hat nunmal weniger Aufmerksamkeit für andere.

Das Verdienst von Gersters Portrait ist es, vorstellbar zu machen, daß Menschen wie Lara tragische Menschen sind und nicht sinnvoll moralisch bewertet werden können. Gersters Film schult die Intuition für die Unsinnigkeit und Verfehltheit moralischer Urteile. Niemand ist freiwillig unausstehlich. Unausstehliche haben nicht unsere Ablehnung sondern unser Mitgefühl und unsere Solidarität verdient. (Was nicht bedeutet, daß wir nicht das Recht hätten, uns vor ihrer Unausstehlichkeit zu schützen.)

(2) Kritik

Obwohl er eindrucksvoll und bedeutungsvoll ist ,“packte“ mich der Film „irgendwie“ nicht richtig. Aber es ist möglich, daß das an mir liegt und meine Wahrnehmung dadurch verzerrt wird. Meine Kritikpunkte sind nur sinnvoll für Zuschauer, die trotz der Stärken des Films ebenfalls unzufrieden blieben und sich fragen, wieso eigentlich.

(1) Was mich am meisten verwundert: Ich meine wahrgenommen zu haben, daß die Schauspieler an einigen Stellen zu sehr dem geschriebenen Wort des Drehbuchs verhaftet bleiben, bzw. die Dialoge des Drehbuchs zu unlebendig geschrieben sind. Und das störte den Fluß meines Erlebens. Denn wenn das einige Male passiert, wenn auch nur ganz leicht, dann kann ich mich nicht mehr „fallenlassen“, weil ich weitere solche Stellen erwarte. Der Film verliert für mich dann an hypnotischer Kraft.

(2) Zufälle erlebe ich als fragwürdig: Lara will sich zu Beginn offenbar aus dem Fenster stürzen, da klingelt gerade zur rechten Zeit die Polizei an ihrer Tür. Ich frage mich: Wie kommt Gerster darauf, daß sein Film das nötig hat? Er hat es nicht nötig! Die ganze Szene, inklusive der Hausdurchsuchung, auf der Lara als Zeugin anwesend sein soll, halte ich für unnötig. Für mich begann der Film mit enttäuschenden Längen. – Unnötig ebenfalls: die Schlußszene. – Ja, ich gehe sogar soweit, zu sagen, daß viele Handlungen eher vom Thema abgelenkt haben, weil man über ihren Sinn spekulieren mußte: Warum will Lara möglichst viele Karten für das Konzert ihres Sohnes kaufen? Warum holt sie all ihr Geld ab? Warum kauft sie sich ein Abendkleid? Sind diese Handlungen wirklich gut geeignet, Laras seelische Not zum Ausdruck zu bringen? Ich konnte nicht unmittelbar nachvollziehen, wieso sie das macht und wozu das jetzt wichtig ist, und mein Nachdenken darüber entzog dem Film Aufmerksamkeit.

(3) Ich hätte mir mehr Subtilität gewünscht. Daß Lara einen Geigenbogen zerbricht, daß sie das Konzert verläßt, das ist alles intellektuell gerechtfertigt – aber es sind „Informationen“, keine Erlebnisse – im Gegensatz z.B. zu den Szenen bei Laras Mutter, in denen sich die unterschwellige Aggressivität von Mutter und Tochter ganz beiläufig „zeigt“ und erlebbar wird, ohne daß wir durch irgendein besonderes „Zeichen“ darüber informiert werden müssen. – Überhaupt: Immer wieder diese Zeichen: der Klavierhocker vor der Wand, wo mal das Klavier gestanden hat. Soetwas hätte der Film nicht nötig!

Trotz allem finde ich, daß Gersters Film die überwiegend positiven Rezensionen verdient hat. Mein Prädikat: Unbedingt anschauen! – Es sei denn, Sie sind – wie ich – sensibel bezüglich der Verwendung klassischer Musik als Filmmusik. Dann sollten Sie sich den Film trotzdem anschauen – doch es könnte mein Nachtrag für Sie interessant sein:

(4) Gut, Punkt vier ist mein Spezialthema: Klassische Musik als Filmmusik. – Vorab: Gerster halte ich diesbezüglich schon für sehr professionell: Es ist erstaunlich, wie wenig klassische Musik er in diesem Film verwendet, in der sie eine so konstitutive Rolle spielt! Jeder andere hätte hier mit mehr herumgepfuscht. Stattdessen hat Gerster mit einem hervorragenden Komponisten zusammengearbeitet: Arash Safaian. – Mit einem solchen Künstler an der Seite hätte es Gerster nicht nötig gehabt, auf klassische Kunstwerke zurückzugreifen. Er tat es dennoch:

Lara geht durchs Hansaviertel und dazu wird eines der herausgehobensten Stücke klassischer Kunstmusik gespielt. Was soll das? Traut Gerster sich nicht zu, ohne Vereinnahmung eines fremden Kunstwerks ausdrucksvoll zu sein? – Ja, ich bin hier genauso sauer und aggressiv wie Lara, aber zu Recht: Ich will selber bestimmen, wann ich mich mit welchem Kunstwerk beschäftigen will! Ich will nicht bei einer bestimmten Melodie immer an einen Film denken müssen, ich will mir Kunstwerke nicht mit konditionierten Assoziationen kontaminieren lassen! Das ist ganz und gar nicht in Ordnung! Es ist ein Eingriff in die Autonomie der Rezipienten und noch schlimmer: in die Autonomie des Kunstwerks! Um es knallhart zu sagen: Es hat etwas Übergriffiges und Parasitäres. Ein Minuspunkt für Gerster! – Das gleiche gilt für die Szene im Cafe, in der im Hintergrund klassische Musik läuft. Es ist nicht nötig, hier auf diese Weise zu demonstrieren, wie wenig Bildungsbürger von dem verstehen, mit dem sie sich brüsten! (Klassische Musik im Cafehaus ist einfach bloß närrisch.)

Für die Chopin-Etüde und die Schumann-Toccata gilt das so nicht, denn hier wurde die Musik nicht einer Handlung untergelegt, sondern gezeigt, wie sie gespielt wird. Im Kontext eines Films mag das bezüglich des Umgangs mit fremder Kunst vielleicht auch nicht ganz „astrein“ sein, aber es ist ein wesentlicher Unterschied.

Gerster sollte sich fragen: Wie fände er es, wenn hochexpressive herausgehobene Sequenzen seiner Filme von einer Werbung für Rasierschaum oder Rasenmäher genutzt würden?

Weiterlesen: Rezension zu Erstlingsfilm von Jan-Ole Gerster: Oh Boy!

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