Die Aufzeichnungen blockieren teilweise die Entfaltung des Erlebens. Margaretes Gesicht in Großaufnahme zu zeigen, wenn sie am Spinnrad sitzt und dann nach und nach ihre ganze Gestalt sichtbar zu machen bedeutet: den Informationen aus dem Text sich ständig ändernde, aufmerksamkeitsbindende visuelle Informationen hinzuzufügen. Das Erleben wird dadurch eingeschränkt! Würde es sich um einen Film handeln, wäre eine solche Kameraführung wahrscheinlich bestes Handwerk. Aber Sprechtheater lebt vom Text! Solche Kameraeffekte können höchstens solche Zuschauer gut finden, die für die Poesie des Textes wenig empfänglich sind.
Es ist klar, daß die Kameraleute auch gerne ihre Kunst zeigen möchten. Aber hat ihnen noch keiner gesagt, daß es bei der Aufzeichnung von Theaterstücken andere Gesetzmäßigkeiten gibt als beim Film? Die Kameraführung ist etwas Diktatorisches: der Zuschauer hat keine Chance mehr, sich auf dasjenige auf der Bühne zu konzentrieren, was er möchte, sondern er muß nehmen, was kommt und er kann nie wissen, was wann kommt oder ausgeblendet wird. 4
Doch es ist lehrreich, auf diese Weise die Sensibilität der poetischen Potentiale eines Textes – also die Sensibilität der Form – zu erleben: Die Kunst des Regisseurs ist offenbar, genau zu wissen, was ein Text braucht, um sein Potential zu entfalten und vor allem: wie viel davon, und was diese Entfaltung beeinträchtigt.
Das gilt z.B. auch für die Musik. Wie Stein es dem Theaterkomponisten durchgehen lassen konnte, den Auftritt Helenas im dritten Akt mit einer mehrstimmigen Chormusik zu unterlegen, ist mir rätselhaft – zumal die Musik dem antikisierenden Eindruck, den Goethe hier im Sinn hatte, massiv zuwiderläuft. Abgesehen davon ist sie auch noch ziemlich betulich.
Also: Nicht von DVD-Aufzeichnungen auf die Potentiale eines Stückes schließen!!!