Gedanken über die Aufführung von Stücken aus der „Kunst der Fuge“ mit Texten von Joe Brainard, durch die capella vitalis berlin und Elliot Posener
Ich erinnere mich: Die Fugen waren mitreißend gespielt und die sehr sympathischen Texte lebendig und wunderbar ansprechend dargeboten.
Ich erinnere mich aber auch, daß ich mich geärgert habe. Gut, ich war selber schuld: Ich bin hingegangen, weil ich beides wollte: die Fugen hören und die Texte kennenlernen.
Ich habe nicht nachgedacht. Ich will selber bestimmen, in welchem Kontext ich Musik höre! Ich will zwischen den Fugen nicht mit Sprachkunstwerken zugeballert werden! Ich will die Musik nicht zur Filmmusik degradieren, für das, was die Texte in mir an Vorstellungen auslösen.
Im Programm lese ich: „Im Dialog mit den kurzen Erinnerungsbruchstücken aus J. Brainards Buch: „i remember“ erklingen die Fugen wie sie gedacht waren – als emotional packende, vitale und poetische Musik“. – Ohne den Dialog mit diesen Texten klingt die Musik nicht so, wie sie gedacht war? Mußte Bach erst auf Texte warten, bis seine Musik verstanden wurde? Hat die Kunst der Fuge das nötig? Vor allem wenn sie so gespielt wird, wie an diesem Abend?
Und natürlich muß heute alles „emotional packend“ sein. Drunter geht es nicht. – Wer emotional gepackt werden will, sollte Tschaikowsky hören!
Egal wie hinreißend sie gespielt wird: die Kunst der Fuge ist nicht „emotional“, das ist ja gerade das wunderbare an ihr. Es gibt kaum eine Musik, in der die Emotionen reifer sublimiert worden sind, als in der Kunst der Fuge.
Sicher: Heutzutage ist die gängige Methode, klassische Musik interessant zu machen, sie mit irgendwas zu kombinieren. Andere Methoden haben wir schlichweg noch nicht entwickelt. – Aber solche Kombinationen sind keine Kunst. Das kennen wir doch alle aus unsern Basteleien in der Schulzeit: Egal ob Bach oder Beatles: wenn man gute Musik mit Bildern oder Texten kombiniert, egal mit welchen, kommt immer was Frappierendes dabei heraus, immer! – Insofern ist es zwar verständlich, wenn das immer wieder gemacht wird, aber es ist nicht sinnvoll. Es wird der Musik etwas aufgedrängt, es legt sie fest, es läßt sie nicht frei schwingen.
Das ist der falsche Weg, um die klassischen Kunstwerke zu entstauben, der falsche Weg und die falsche Botschaft.
Schon Goethe war genervt durch Leute, die seine Gedichte szenisch vortrugen. Ein Gedicht ist ein Gedicht, ist ein Gedicht – und keine Szene! Die szenische Information zieht Aufmerksamkeit vom Gedicht ab.
Laßt die Kunstwerke für sich selbst sprechen!
Laßt uns zusammensetzen, und gemeinsam neue, einfallsreiche Formen entwickeln, Kunstwerke zu entstauben, das Interesse an ihnen zu wecken, den Zugang zu ihnen zu erleichtern!
Link zur Initiative zur Entstaubung klassischer Kunstwerke