Goethe und Quote

Goethes Faust könnte ein Musterbeispiel dafür sein, daß bedeutungsvoller Gehalt so dargeboten werden kann, daß keiner wegzappt.

Unkenntnis und Mißverständnis haben bisher zur Verkennung des Stücks geführt, weil es durch Lesen nur mühsam zu erschließen ist, weil zu viel in das Stück hineingeheimnist wurde, und weil seine Inszenierungen an Einfallslosigkeit und postmodernem Brimborium leiden. Die Folge: Wir haben einen legendären Brillianten, der wie ein stumpfer Rohling aussieht. Aber das traut sich niemand zu sagen, dafür ist er zu legendär. Um seinem Nimbus gerecht zu werden, stellt man ihn in allen möglichen Arrangements zur Schau, doch niemand kommt auf die Idee, einfach mal den Staub runter zu pusten. [Anm.: Was ich einfallslos finde.]

So geht es mit vielen Kunstwerken, die zum „Bildungsgut“ mißverstanden wurden, von Bildungsbürgern, denen es mehr darauf ankommt, sich mit Bildung zu schmücken, statt sich engagiert damit zu beschäftigen. – Kunstwerke gehören nicht ins Museum sondern ins Leben. Sie sind reiche Ressourcen von Lebensfreude, Lebensbejahung und Bewältigung der menschlichen Fragen ans Dasein.

Es ist ungeheuerlich, was den meisten Menschen heute entgeht, weil sie von den Kaufleuten darauf getrimmt werden, Spaß haben zu wollen, statt sich Kunstwerke zu erschließen. Viele intelligente junge Leute sagen mir, es sei ihnen zu mühsam, eine Beethovensinfonie zu hören. Das wirkt greisenhaft. – Goethes Faust könnte uns zeigen: Das Unterhaltsame muß nicht gehaltlos sein, das Faßliche nicht dümmlich und das Reizvolle nicht kitschig. (Beethovensinfonien zeigen das auch, aber die hört ja niemand – dabei ist Beethoven in seinen Sinfonien der größte Zauberkünstler, was die Verbindung von Gehalt, Stringenz, Faßlichkeit und „Hörlust“ betrifft…)

Die guten Ansätze in den Produktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks („Örr“) zeigen, daß wir vieles längst haben, was man für gutes Fernsehen braucht, nur kommt die Kompetenz nicht zum Zuge.

Die Forderung, daß der Örr eine bestimmte Quote erzielen soll, ist unabdingbar. Es geht nicht, daß alle bezahlen, was nur wenige interessiert. Der Örr hat daraus bloß den falschen Schluß gezogen: um der Quote Willen den Privaten nachzueifern mit Trivialisierung und Vulgarisierung.

Von einem Örr ist Qualitätsquote zu fordern: Sendungen mit einer Qualität, die von der privater Sender deutlich und zuverlässig unterscheidbar ist und die dennoch mindestens soviel Quote erzielt, wie die Privaten.

Die Erfahrung, die der Örr bis jetzt mit der Quote gesammelt hat, sind unschätzbar: Der Örr weiß, wann weggezappt wird. Das gilt es auszuwerten. Und es gilt, mit diesen Auswertungen systematisch Experimente zu machen. Aber ich habe bei meinen Recherchen keinen Hinweis darauf gefunden, daß soetwas je stattgefunden hat! Doch genau das wäre nach der Einführung der privaten Sender die Aufgabe des Örr gewesen: mit unterhaltungs- und informationsästhetischen Möglichkeiten zu experimentieren und neue zu entwickeln.

Sollte mein Befund richtig sein, hätte der Örr seinen Auftrag eklatant verkannt oder ignoriert – oder auf gut deutsch: verkackt. – Nichts könnte besser belegen, daß der Örr nicht über zureichende Kompetenzstrukturen verfügt: Die, die wissen, wie´s geht, kommen offenbar nicht zum Zuge. Nur die Funktionäre haben das Sagen, denen es um nichts anderes geht als um eine blinkende Oberfläche, um „Gilt-Als“ und „Als-Ob“. – Aber was nützt ein äußerlich prächtiger Apfel, wenn er innendrin mehlig ist? Zumal, wenn er als Qualitätsobst verkauft wird…

Sicher, Qualitätsserien wie „The wire“ oder „House of cards“ hätten im Hauptabendprogramm kaum Quote. Sie sind dafür zu „sperrig“. Aber es wäre kein Problem, etwas mit vergleichbarem Gehalt auf gleichem künstlerischen Niveau zu produzieren, das faßlicher und unterhaltsamer ist. – Manche „Tatort“-Krimis zeigen diesbezüglich gute Ansätze. – Die Drehbücher müssen gehaltvoller und künstlerisch wertvoller werden und Anklänge an Dilletantensprech bei den Schauspielern dürfen nicht durchgehen. Es ist ein Rätsel, wieso beim reichsten Fernsehen der Welt im Hauptabendprogramm Abend für Abend Dilletantismus präsentiert wird, billig und hastig produzierte Dutzendware, die sich von der der Privaten höchstens dadurch unterscheidet, daß sie von den Anstandswauwaus der Gremien sittlich zurechtgebellt wurde.

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Anm.:

Was ich einfallslos finde, an den Faust-II-Inszenierungen, die ich bisher sah?

Die Möglichkeiten, Kommentare in die Inszenierung zu integrieren, wurden nicht genutzt. Dabei haben wir heute auf der Bühne alle Freiheiten! – Mephisto z.B. fällt gern aus der Rolle. Wenn man ihn nur ließe, würde er sich keine Möglichkeit entgehen lassen, etwas ironisch zu kommentieren…

Merkwürdig eigentlich: der Kreativität der Regisseure und Dramaturgen wäre da keine Grenze gesetzt. Die wollen doch so gerne super kreativ sein! Die Ausarbeitung solcher Kommentare stellt höchste Anforderungen an Witz und Prägnanz und es erfordert viel Kreativität, das Kommentieren so hinzukriegen, daß es paßt: das es sich nahtlos einfügt, die Stringenz eher erhöht statt stört, und daß es so sparsam eingesetzt wird, daß es das Stück nicht überfrachtet.

Leider nutzen die Regisseure ihre Kreativität eher dazu, den Wanderer auf Rollschuhen um Baucis herumkreisen zu lassen, die von einer jungen Frau im Hochzeitskleid gespielt wird (so geschehen in Weimar).

Stemann lud gleich Goethe persönlich mit seinem Faust-II-Team live auf die Bühne ein. Das war eine gute Idee. Aber offenbar hatten die keinen Bock, denn es kam nichts dabei herum. Außerdem würde Mephisto das viel unaufwändiger und eleganter hinkriegen. Und es gibt in dem Stück weiß Gott auch noch genug andere, die über das, was sie da machen, mal nen Ton mehr sagen könnten, als vorgeschrieben…