oder: Zur Anatomie des Nicht-Wahr-Haben-Wollens.
Eine der schockierensten Passagen der deutschen Literatur.
(Lesezeit: 9 Minuten)
1 Trüber Tag, Feld
Ein Angestellter könnte so abgemahnt werden: „Wenn du weißt, daß Margarete so verzweifelt ist, daß sie ihr Baby ermorden will, dann mußt du doch was sagen, dann kannst du doch nicht so tun, als wär nichts!“ Eine solche Abmahnung implizieren Fausts Worte an Mephisto: „Und das hast du mir verheimlicht! Und mich wiegst du indessen in abgeschmackten Zerstreuungen!“ – Ja, was hat Faust denn geglaubt, was ein Teufel tut? Was ist das für eine merkwürdige Fehlleistung, von einem Teufel die Treuepflichten eines Angestellten zu erwarten?
Der Teufel macht mit Faust eine Realitätsprüfung: „Sie ist die erste nicht“. – Daran hätte Faust denken müssen, daß Margaretes Schicksal für einen Teufel – einen „Verderber“, wie Faust selbst Mephisto genannt hat – nichts besonderes ist, nichts, das der Rede wert wäre.
Faust hat sich selbst etwas verheimlicht: Er mußte damit rechnen, daß Margarete schwanger wird und er wußte, was uneheliche Schwangerschaft gesellschaftlich bedeutet, und er hatte nichts Sinnvolles zu tun, außer sich in zweifelhaften Etablissements herum zu treiben. Er hätte Zeit genug gehabt, mal nach Margarete zu fragen. Er hat sich in der Grauzone zwischen bewußten und vorbewußten Geistesvorgängen entschieden, nur an sich zu denken.
Im Prinzip ist das ja nichts Neues: Schon als er die Beziehung zu Margarete scheitern sah, hatte er „nicht den Arsch in der Hose“, ihr alles zu gestehen, sondern floh vor seinen inneren Konflikten ins Gebirge und ließ sie in Ungewißheit sitzen.
Die Szene gibt uns die Frage auf: Wie ist es möglich, daß ein Mensch sich selbst etwas verheimlicht? Man kann vor sich selbst doch nicht so tun, als wüßte man von nichts! Die Möglichkeit, sich selbst etwas zu verheimlichen läuft unserer Intuition zuwider.
Hier ein Erklärungsvorschlag von mir: „Ich müßte eigentlich darüber nachdenken, ob es in Ordnung ist, nicht daran zu denken, wie es Margarete wohl ergeht! Ach Scheiß, darüber will ich jetzt nicht nachdenken. – Aber auch darüber müßte ich eigentlich nachdenken: ob es in Ordnung ist, nicht nachzudenken über die Frage, ob es in Ordnung ist, nicht an Margarete zu denken. Ja, das müsste ich eigentlich erwägen. – Gut, aber nicht grad jetzt…“ – Die Erlaubnis, nicht gerade jetzt daran zu denken, müsste dem Sinn nach eigentlich ergänzt werden mit einem Plan, wann denn das Dran-Denken nachgeholt wird. Aber soweit denkt man nicht…
Faust will seinen Anteil Schuld hartnäckig nicht wahrhaben. Stattdessen wird er beleidigend. Das ist infantil. Es ist, als sagte der Teufel: „Du kannst dich nicht damit rausreden, du hättest nicht gewußt, daß Teufel teuflisch sind“, und als erwidere Faust: „Ja, aber was bist du auch für ein fieser Teufel, daß du so fies bist!“
Der Teufel nennt dieses Verhalten „übergeschnappt“ und führt Faust zurück zur Realität: „drangen wir uns dir auf oder du dich uns?“ Doch Faust ist immer noch nicht realitätsfähig, er flüchtet in noch größere Entwertung. – Allerdings könnte man in Fausts Reaktion auch einen Ansatz von Charakterstärke sehen: Er begreift das unfaßbare Ausmaß von Margaretes Not und kann es nicht fassen, daß das wahr sein darf, und noch weniger, daß er daran mit schuld ist. Das zeigt, daß er fähig ist, die Bedeutung des Vorgefallenen zu ermessen.
Erneut konfrontiert ihn der Teufel: „Wer war´s, der sie ins Verderben stürzte, ich oder du?“ Und der Teufel benennt Fausts Verleugnungsstrategie: „das ist so Tyrannenart, sich in Verlegenheiten Luft zu machen“ – Tyrannenart ist: mit Diffamierung und Aggression auf Argumente zu reagieren. Der Preis ist immer: Realitätsverlust, weil die korrektive Potenz der Verständigung systematisch blockiert wird. – Hier erst ist Faust am Ende der Verleugnung angekommen und kann nur noch wild umherblicken. Er hat einen Augenblick der Wahrheit.
Mit dem Hinweis „Sie ist die Erste nicht“ will Mephisto Faust außerdem zu einer anderen Sichtweise bewegen: zur bagatellisierenden Relativierung des Einzelschicksals. Bei Stalin hatte Mephisto damit Erfolg, Stalin soll sinngemäß gesagt haben: Der Tod eines Einzelnen ist tragisch, der Tod Vieler Statistik.
Doch Faust bleibt bezüglich Margaretes Schicksal ganz in der Realität: Faust ermißt Margaretes Leid in seiner ganzen schrecklichen Bedeutung. Daß eine solche Not sein darf, ist für ihn unfaßbar. Wenn überhaupt, dann dürfte es nur einmal aus Unerfahrenheit passiert sein, ein einziges Mal, daß ein Mensch, und nur dieser einzige, so gelitten hat! Aus dem Schock der Katastrophe dieses einen Lebens hätte die Menschheit so klug werden müssen, daß nie wieder so etwas passiert, nie wieder! (Faust schreit Mephisto entgegen, es sei unfaßbar, „daß mehr als ein Geschöpf in die Tiefe dieses Elends versank, daß nicht das erste genug tat für die Schuld aller übrigen“.)
Faust erkennt hier, was es für die menschliche Existenz bedeutet, daß ein solches Ausmaß von Leid und Not möglich ist: „Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an!“ – Diese Stelle widerlegt alle einseitig abwertenden Deutungen der Faustfigur, die heute so gängig sind. Hier zeigt sich, daß Faust auch zu engagierter Menschenliebe fähig ist: er reagiert auf Margaretes Not mit dem Gefühl, daß soetwas nicht sein darf und dagegen etwas getan werden müßte. Allerdings ist er noch zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich selbst zu Engagement aufgefordert zu fühlen.
Das ist eine Situation mit aktueller Entsprechung: Wir wollen lieber nicht wissen, was unser Lebensstil in anderen Erdteilen so alles anrichtet, wir schauen lieber seichte Krimis und strafen das Fernsehen mit Quoteneinbruch ab, wenn es was anderes bringt. Und hinterher stehen wir fassungslos da, wenn die Afrikaner versuchen, sich nach Europa zu retten, und dabei zu tausenden Opfer gewissenloser Schlepperbanden werden. Dann ignorieren wir den globalen Kontext des Geschehens und unseren Anteil daran und machen stattdessen die bösen Schlepper für die Not verantwortlich.
2 Kerker
In der Fähigkeit, Margaretes Leid in seiner schockierenden Unerträglichkeit zu erfassen, zeichnet sich eine Faser des „rechten Wegs“ in Fausts „dunklem Drang“ ab. – Sein Wort: „Werd‘ ich den Jammer überstehen!“ wird oft so gedeutet, daß Faust hier nur an sich denke. Aber man könnte darin auch die Größe seines Mitgefühls sehen: Er ist schockiert und hat das Gefühl, den Schock nicht auszuhalten, er ist nah dran, durch Margaretes Leid und Verzweiflung selbst traumatisiert zu werden, und er fragt sich, angesichts der Seelennot Margaretes, ob es noch einen Konsens mit einem Dasein gibt, in dem eine solche Not möglich ist.
Auch wenn er kurz darauf sagt: „Laß das Vergangene vergangen sein. Du bringst mich um“, muß das kein Zeichen sein, daß er nur an sich denkt. Sondern hier wird Faust mit einer weiteren Schuld konfrontiert: daß seine Rettungsaktion scheitern könnte, weil Margarete zaudert, mit dem Totschläger ihres Bruders mit zu kommen. In diesem Falle wäre Faust indirekt ein zweites Mal mitschuldig an Margaretes Tod. – Er ist seinen schlechten Taten nicht gewachsen. (Ein Wort Nietzsches.) Er hat das Gefühl, an seiner Schuld zu sterben, er muß Schuldgefühle abwehren, er hat für einen erwachsenen Umgang mit Schuld nicht die erforderliche Reife.
Überlesen wird oft, daß Faust Margarete verspricht, bei ihr zu bleiben. Selbst wenn man annimmt, daß er dieses Versprechen nicht durchhalten kann, zeigt es etwas von seiner Beziehungsfähigkeit: Er weiß, was Margarete hier braucht und was eine Beziehung leisten kann und leisten sollte. – Daß ihm dieses Versprechen nicht gemeint sei sondern er Margarete hier bloß manipuliere, wäre eine Unterstellung. Daß Faust eine Haltung habe, die derart manipulative Intentionen ermöglicht, dafür werden sich schwerlich überzeugende Belege finden lassen. Und es wäre auch witzlos, das Drama so zu verstehen und zu inszenieren. Es ist viel spannender, zu inszenieren, wie ein Mensch von seinen inneren Konflikten so zerrissen und von seiner Unreife so beschränkt wird, daß sich seine guten Ansätze im Handeln (der „rechte Weg“) in Schlechtes verwandeln – zu inszenieren, wie sich im Dunkel des Dranges verderbende Instanzen einnisten können…
Margarete erlebt Faust ambivalent: sie fühlt das Liebevolle, seine grundlegende Bezogenheit auf andere, und gleichzeitig seine akute Ichbezogenheit, und sie ahnt, daß Faust diese widerstreitenden Bestrebungen noch nicht reflektiert, geschweige denn, bemeistert hat, sondern zwischen Liebe und Selbstverwirklichung „taumelt“. –
Margarete erweist sich trotz ihres jugendlichen Alters als die bei Weitem Reifere: Im Gegensatz zu Faust macht sie sich nichts vor: Sie zählt knallhart auf, was sie verbrochen hat. Während Faust seine Verantwortung auf Mephisto abzuwälzen versucht, übernimmt Margarete fraglos ihren Teil der Verantwortung für den Tod ihrer Mutter. Dabei hatte sie sich nicht völlig verantwortungslos verhalten: Sie hatte sich nicht blind auf Faust verlassen sondern, selbst auf die Gefahr, Faust ungehalten zu machen, nachgefragt: „es wird ihr hoffentlich nicht schaden.“ – (Und Faust scheint in der Tat durch das Misstrauen gekränkt und sagt sinngemäß: „Für wen hältst du mich!“ („Würd ich sonst Liebchen, es dir raten?“))
Margarete kann das Vergangene nicht vergangen sein lassen. Sie spürt: wohin sie auch geht, es würde sie verfolgen. Das Gefühl, mit der Schuld nicht leben zu können, ist bei ihr weit stärker ausgeprägt, als bei Faust, so stark, daß sie fast den Verstand darüber verliert. Doch im Gegensatz zu Faust will sie Schuld nicht dadurch bewältigen, daß sie sich aus der Verantwortung stiehlt. Fausts Ansinnen erlebt sie als „mörderisch“ (Vers 4577): Sie würde ihr Gewissen morden, ihre Integrität, ihren sozialen Sinn, ihre Identität. Die Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft zu übernehmen: daran führt für sie kein Weg vorbei.
Dabei hat Faust in diesem konkreten Fall eigentlich recht: Die konventionelle Form, Verantwortung zu übernehmen, ist nicht immer die verantwortlichste. Manchmal muß man klüger sein als die Konvention. Es wäre sinnvoller gewesen, wenn Margarete weitergelebt und versucht hätte, durch gute Werke ihre Schuld so weit wie möglich abzutragen.
Doch wie soll Margarete mit ihren 16 Jahren das wissen, wie soll ohne Lebens- und Welterfahrung ihre Intuition stark genug sein, um auch unter Schock, vernichtenden Schuldgefühlen und abgrundtiefer Verunsicherung noch daran anknüpfen zu können? Das bildet einen anderen Teil von Margaretes Verhängnis – möglicherweise wurde dieser Aspekt von Goethe gar nicht gesehen.
3 Anmutige Gegend
Nach Margaretes Hinrichtung läßt sich Faust von Elfen die Schuldgefühle wegmachen. Das ist die ungeheuerlichste Szene des Dramas. Der größte Held der Deutschen läßt sich ständig von Ammen hin- und her wiegen: zuerst von Mephisto in „abgeschmackten Zerstreuungen“, dann von Elfen: „lispelt leise süßen Frieden, wiegt das Herz in Kindesruh“. Faust nimmt die Beruhigung im mütterlichen Arm in Anspruch, die wegen seiner Treulosigkeit seinem Sohn zu erleben verwehrt war. Goethe ist hier nur einen kleinen Schritt entfernt vom absurden Theater: Wenn schon das Baby nicht gewiegt werden kann, weil es ermordet wurde und seine Mutter nicht, weil sie hingerichtet wurde, muß wenigstens der Vater gewiegt werden, egal ob er heilig ist oder böse… –
Und welcher Gegensatz auf einem Raum von wenigen Versen: Hier eine junge Frau im Kerker, die aus panischer Angst vor Mobbing ihr Baby umgebracht hat, daran zerbrochen ist, und nun in Schuld- und Todesnot ihrer öffentlichen Hinrichtung entgegen sieht, dort der Mann in den besten Jahren, der das alles angerichtet hat, und sich jetzt auf einem idyllischen Fleckchen Gebirgswiese von süßen Elfchen einlullen läßt, nach einem guten Schlaf erwacht, die großartige Morgenstimmung genießt, und sich was auf seine Weisheitsergüsse angesichts des Sonnenaufgangs zu Gute hält. – Der Menschheit ganzer Jammer ist im Handumdrehen verwandelt in eine Nuance von des Lebens farbigem Abglanz. Mephisto hat Faust jetzt genau da, wo er ihn haben wollte: Beim Übergang von der kleinen in die große Welt werden Einzelschicksale durch Statistifizierung bagatellisiert.
Auf eine der unerträglichsten und schockierensten Szenen der deutschen Literatur folgen unmittelbar einige ihrer schönsten und lieblichsten Verse – so wie das Wirtschaftswunder auf Auschwitz folgte. (Und in der Tat läßt Faust der Not im Kerker ein Wirtschaftswunder am Kaiserhof folgen… )
Die Elfenszene ist ein Sinnbild dafür, wie unsere natürliche Vitalität unsere Handlungsfähigkeit zu erhalten versucht. Unsere Vitalität schaut nach vorne, sie vergewissert sich ihrer Chancen und ihrer Potentiale. Das ist eine sinnvollere Werkseinstellung als sich mit Rück- und Seitenblick, mit Skrupeln und Bangigkeit die Gegenwartsfähigkeit zu beeinträchtigen. Ja: die Meisterung des Hier-und-Jetzt ist die Voraussetzung dafür, daß es überhaupt eine Bewältigung des rechts, links und hinter mir Liegenden geben kann. Insofern muß man den Elfen recht geben.
Das bedeutet allerdings auch: Ohne Kultivierung trainiert die natürliche Vitalität das „Nicht-dran-denken“. Das hat bisher immer zum Überleben der Spezies gereicht. Woher soll sie es also besser wissen? – Doch das Nicht-dran-denken ist wie: Rechnen ohne etwas im Sinn zu behalten. Es kommt dann immer das Falsche raus.
Das „Nach-vorne-schauen“ ist vorsätzlicher Realitätsverlust. Wer im Straßenverkehr bloß nach vorne schaut, statt auch nach rechts und links und in den Rückspiegel, gefährdet sich und andere. Doch das Nach-Vorne-Schauen wurde von unseren Altvorderen als Tugend glorifiziert. Sie ebneten damit dem größten, gräßlichsten und absurdesten Verbrechen der Menschheitsgeschichte den Weg, einem Völkermord, der aus völlig verschrobenen Gründen verübt wurde: daß man die Menschheit, wie Vieh, in Rassen einteilen zu können meinte, und die eigene für die vorzüglichste hielt (und folgerichtig auch sich selbst wie Rindvieh auf die Schlachthöfe des Krieges trieb…)
Erst im Zusammenhang der Kerker- und der Elfenszene offenbart sich eine der wesentlichsten Botschaften des Dramas. – Jeder Regisseur der Faust 1 inszeniert und die Inszenierung nicht mit der ersten Szene von Faust 2 beschließt, hat nichts begriffen.
Weiterlesen:
Faust II erster Akt, Thronsaalszene: Goethes Formel für Finanzmanipulation
Überblick über das Drama: Deutende Inhaltsangabe
Zum Faust-Pfad (Überblick über alle Artikel)
Link zu einem gender-reflektierter Kommentar zur Kerkerszene: Die Gretchentragödie ist das wahre Trauerspiel. Frauendrama und Männerhochmut in Goethes ‚Faust‘ – Schöngeistinnen (schoengeistinnen.de)
Ein weiterer empfehlenswerter Link: https://www.goethezeitportal.de/db/wiss/goethe/faust-margareteundtrauma_fricke.pdf