Wildwald
Aus den „Fantasien“ von Daniel Seefeld
(Lesezeit: 30 Minuten)
1
Wir konnten unser Glück kaum fassen, kurz vor dem Sommer noch so ein Ferienhaus zu finden: direkt am See, einsam, nach allen Richtungen kilometerweit nichts als Wald, und bloß eine Autostunde von Berlin entfernt!
Wir hatten erwartet, so ein ausgedehnter Wald müsse besonders erwähnenswert sein und in Reiseführern und der Selbstdarstellung des Landkreises als Attraktion angeführt werden. Doch es war darüber weder im Internet noch in der Bibliothek etwas zu erfahren. Der Wald wirkte wie totgeschwiegen.
Anfang Juli fuhren wir hin. Zunächst zum Grafen. Er pflegte die Gäste seines Forsthauses persönlich zu begrüßen. – Mit seiner jungen Geliebten residierte der Graf, ein jovialer kleiner stämmiger Mann Mitte 50, in einem anmutigen Schlösschen mit Blick auf einen See in idyllischer Hügellandschaft.
Der Graf hatte nach der Wende die Ländereien seiner Vorfahren zurückerhalten. Doch er war Architekt, er wollte Häuser bauen statt von Besitz leben. Er hatte sein Land – fast ein Viertel des Landkreises – den Kleinbauern zum Wirtschaften überlassen. Hier gab es keine Schweinemastanlagen und keine Golfhotels, nichts, was die Landschaft versperrte und vernutzte.
„Ist nicht jedermanns Sache, so einsam“, sagte der Graf zum Abschluß des Gespräches, das durch sein ungeheucheltes Interesse sehr angenehm in Erinnerung blieb, „das mögen nicht viele. Ich vermiete das Haus selten. Meist nutzen es Freunde, bleiben aber selten länger als drei, vier Tage. – Ich bin wohl der einzige, der gerne länger dort weilt. Sie sind dort wie aus der Welt, Sie werden sehen. Aber wie gesagt, das ist nicht jedermanns Sache. Fühlen Sie sich ganz frei, jederzeit abzureisen, Sie brauchen nur die Tage zu bezahlen, die Sie dort verbringen!“ – Mit diesen Worten verabschiedete uns der Graf.
2
Frau K., eine rüstige alte Dame, holte uns mit einem Geländewagen ab. Unser Auto wäre keine hundert Meter weit in den Wald hineingekommen: Der Weg war nie erneuert worden, die Fahrrinnen tief ausgefahren. „Das waren die Russen mit ihren Militärautos“, erklärte uns die Dame, die, wie sich später herausstellte, schon 82 Jahre alt war.
Die Dunkelheit, die uns im Wald umfing, war überraschend. Die Bäume wirkten ungewöhnlich mächtig und hoch. Daß es so einen Wald eine Autostunde von Berlin gab, erstaunte und begeisterte uns. – Bob, unser 6-jähriger Labradormischling, schien den Wald jedoch anders zu erleben: Er hatte sich verstohlen zwischen Rückbank und Kinderbeine geflüchtet, ohne einen Laut.
Zu unserem Willkommen hatte Frau K. ein Lagerfeuer am Ufer vorbereitet. Sie wollte uns dort etwas vom Wald erzählen. – Merkwürdigerweise war Bob nicht dazu zu bewegen, mit uns am See zu sitzen. Er hatte nur sehr widerwillig den Wagen verlassen. Im Haus hatte er gleich alles unbefangen erkundet, dann aber nicht mehr hinausgewollt, und war – was wir nie sonst nie an ihm erlebt hatten – aggressiv geworden, als wir ihn herauszerren wollten.
Anna und Ina verhielten sich auch nicht so, wie wir erwartet hätten. – Roberta stand auf dem Standpunkt: Zum Mädchen wird man nicht geboren sondern erzogen. Von ihr lernte ich, daß wir die Kinder nur mit ihrem Können in Verbindung zu bringen brauchen, ihr Sein finden sie dann von selbst. – Kurz: Unsere Mädchen hatten andere Sachen im Sinn, als mädchenhaft zu sein. Röckchen und Löckchen wollten sie dann und wann schon auch, aber sie hielten sich nie lange damit auf, und gingen meist so nachlässig damit um, daß es an Ironie zu grenzen schien.
Anna und Ina liebten Klettern und Tauchen. Sonst kamen beide nach mir: Für Technik, wie die Mutter, die Zeppeline baute, waren die beiden nicht zu faszinieren, sondern für die Musik. Ich war Dozent für Orgelimprovisation. Anna, die ältere, hatte schon früh begonnen, auf dem Klavier zu improvisieren – im Gegensatz zu Papa jedoch nicht im Bach- sondern im Scarlattistil.
Ina, die wohl instinktiv wußte, daß sie keine Chance hatte, auf Tasten gegen ihre zwei Jahre weitere Schwester zu punkten, hatte sich für Kontrabaß interessiert. Ausgerechnet Kontrabaß! Keine Ahnung, wie sie da drauf gekommen war! Vielleicht – so schmeichle ich mir – weil ihr Papa eine sonore Baßstimme hat. – Wir hatten ihr skeptisch ein Dreiviertelcello besorgt, skeptisch, weil eine besondere Begabung dazu gehört, als Kind mit einem Streichinstrument so gut zurecht zu kommen, daß die Lust daran nicht verloren geht. – Wie die ältere wollte auch Ina nur improvisieren. Allerdings, im Gegensatz zu Anna, war Ina, wie ihre Mutter, vom Jazz fasziniert, und entlockte dem kleinen Cello Töne, die man diesem uralten Instrument nicht zugetraut hätte. – Ich war so stolz auf meine Mädchen!
Gegen alle Erwartung, daß zwei Wildlinge und Wasserratten wie Anna und Ina nach einer Stunde Fahrt, einer Stunde Stau und einem für sie langweiligen Empfang beim Grafen sich sofort im See herumgetollt hätten, zumal an so einem heißen Tag, tanzten die beiden ihren Bewegungsdrang rund um das Feuer aus und wirkten dabei merkwürdig überdreht. Dabei ragte ein halb umgestürzter riesiger Baum weit in den See hinein und forderten zum Klettern und Springen geradezu auf!
Genervt von ihrer mit ständigem Singsang begleiteten Tanzerei, schlug ich ihnen energisch vor, mal den See auszuprobieren. Sie liefen ans Ufer, schauten einen Augenblick still aufs Wasser, dann kam Ina zurück und meinte: „Nee Papa, in den See mag ich nicht, darin lebt eine böse Wasserfrau!“
„Woher weißt du, daß es eine Frau ist, und kein Mann?“, fragte Frau K. ernst.
Ina lachte: „Das sieht man doch!“ Dann wirbelten die beiden weiter ums Feuer.
Frau K. hatte bis dahin auf unsere Fragen geantwortet. Aufgrund ihrer ungebeugten Gestalt und ihres forschen Schritts merkte man ihr das Alter nicht an, obwohl ihr Gesicht über und über verrunzelt war – doch das wirkte bei ihr nicht „alt“, sondern als hätte das Leben ihr besonders viele seiner Schriftzeichen ins Antlitz geschrieben. – Ich habe selten einen eindrucksvolleren Menschen getroffen! Sie war eine Kriegerin! Sie hatte in einer Spezialeinheit der Nationalen Volksarmee gedient, die im kalten Krieg weltweit streng geheime Kommandos ausgeführt hatte.
Mein Großvater hätte diese Frau gemieden. Er hatte an einem Fluchttunnel nach Westberlin mitgebaut. Doch ich konnte jenen Ostdeutschen, die stramme Sozialisten gewesen waren, vorurteilsfrei, ja mit Neugier begegnen, denn viele von ihnen, auch Frau K., hatten wirklich geglaubt, dem Fortschritt der Zivilisation zu dienen. – Von sich aus hätte sie wohl nicht darüber gesprochen, aber auf meine Fragen nach ihrer Familie erfuhren wir, daß ihr Vater Nazizeit und Krieg als antifaschistischer Widerstandskämpfer im Untergrund überlebt hatte.
Frau K. kannte hier im Wald jeden Weg und Steg, denn sie hatte hier zusammen mit den Russen trainiert. Dennoch schien sie unsere Begeisterung für den Wald nicht zu teilen.
„Ich hätte nicht gesagt, daß es weiblich ist“, begann Frau K. nachdem die Kinder sich wieder von uns abgewandt hatten.
„Was?“ fragte Roberta.
„Das da, im Wasser.“
Roberta und ich warfen uns einen verwunderten Blick zu. „Wieso, was ist denn da im Wasser?“ fragte ich.
„Schwer zu sagen, aber da ist was. – Der Graf meint, ich könne es besser vermitteln, deshalb hat er Ihnen noch nichts erzählt. Das ist mein Part hier. Sie müssen wissen: Der Wald ist möglicherweise gefährlich. Ich sage: möglicherweise, denn man hat ihm nie etwas nachweisen können. Dennoch: Es sind auffällig viele Menschen hier ums Leben gekommen. – Immer schon! – Aus den Urkunden der ersten Deutschen, von denen die Slawen hier verdrängt wurden, wissen wir, daß die Slawen diesen Wald mieden. Die Christen dachten, sie haben einen stärkeren Gott, und glaubten, hier gefahrlos jagen und Holz schlagen zu können. Aber von früh an sind hier zahlreiche Unfälle dokumentiert: Menschen haben sich verirrt und sind erfroren, andere sind in den Sümpfen versunken, von Bäumen und Blitzen erschlagen oder von wilden Tieren zerrissen worden. – Und einige sind irre aus dem Wald wieder herausgekommen. – Und es gibt auch eine Häufung von Todesfällen durch allergische Schocks nach Hornissenstichen, und eine Häufung von Hirnschäden durch schwere Verläufe von Hirnhautentzündungen nach Zeckenbiß.
Immer wieder haben die Ahnen unseres jetzigen Grafen hier Förster und Jäger eingesetzt, die erfahrensten, die sie finden konnten. Aber auch unter denen sind auffällig viele ums Leben gekommen. – Wie kann jemand, der sich wie kein anderer mit Sümpfen auskennt, im Sumpf versinken? – Wie kann ein erfahrender Jäger von Wildscheinen getötet werden? – Wie kann ein geübter Schwimmer, der den Ärmelkanal durchschwommen hat, hier im See ertrinken? – Wie kommt es, daß ein Armeehubschrauber und ein Erdkampfflugzeug kurz nacheinander über dem gleichen Gebiet von 11 mal 11 Kilometern abstürzen? Daß ein erfahrener Panzerfahrer mit seinem Panzer an einem Steilufer in den See rutscht und von der Bergungsmannschaft zwei Leute durch einen umstürzenden Kran erschlagen werden?
Es ist hier immer irgendwas Blödes passiert. Einer meiner Kameraden – Spezialtruppen, verstehen Sie, wir waren Hochleistungssportler, keine Hänflinge – wie kommt es, daß er stolpert und so mit dem Kopf aufschlägt, daß er daran stirbt? – Viele sind auch an Herzinfarkt oder Schlaganfall gestorben. Noch letzten Sommer: da war ein älteres Ehepaar hier, die Frau macht das Abendessen, der Mann geht noch etwas spazieren und kehrt nicht zurück. Wir haben ihn abseits des Weges tot aufgefunden, Schlaganfall.
In den letzten zehn Jahren sind 4 Menschen hier im See ertrunken. Es ist aber nichts zu finden, was den See gefährlich machen könnte. Deshalb gibt es hier kein Verbotsschild. – Zwei junge Wanderer, 27 und 31 Jahre alt, Maschinenbauingenieure, gingen in den Wald und verschwanden. Jahre später wurde ein Drogentoter in Berlin als einer von ihnen identifiziert. Der andere wurde nach langer Fahndung als Penner gefunden, irre, wirr, an Psychose erkrankt. Er hat nur noch gestammelt und gelacht.“
„Was erzählen Sie uns für Ammenmärchen, Sie wollen uns bloß bange machen!“, lachte ich.
„Fassen Sie es auf, wie Sie wollen, aber seien Sie gewarnt! Bedenken Sie: Dieses Waldstück ist wild. So sah es hier schon aus, bevor es Menschen gab! – Jetzt, im Sommer, bleibt es lange hell, aber gehen Sie nie nach Acht oder bei Regen in den Wald! Verlassen Sie die Wege nie! – Sie können im See baden, Ihre Kinder auch, das ist gar kein Problem, solange Sie noch Boden unter den Füßen haben. – Sobald es Ihnen hier unangenehm wird, rufen Sie mich an! Ich komme Sie dann holen. – Nach Acht oder bei Regen wird es hier überall unberechenbar, selbst wenn es im Sommer noch hell ist. Hier auf dem Hof ist nie was passiert. Aber ich würde zur Sicherheit sobald es dunkelt ins Haus gehen, die Läden verschließen und drinnen bleiben.“
„Aber Sie sagten, Sie hätten hier oft trainiert und würden hier jeden Weg und Steg kennen!“
„Eben deshalb! – Wir wissen nicht, wer hier ums Leben kommt und wer nicht. – Die meisten erwischt es ja auch nicht. Aber überdurchschnittlich viele! – Es ist, wie wenn Sie mit abgefahrenen Reifen im Wolkenbruch auf der Autobahn 280 fahren. Selbst wenn die Statistiken belegen könnten, daß viele das überleben: Würden Sie es deshalb tun? – Ich habe mehrere Sommer und mehrere Winter hier wochenlang trainiert – im Winter das Überleben, im Sommer die lautlose und unsichtbare Bewegung. – Aber in Wirklichkeit ging es um etwas anderes – und das wußten alle: Es ging darum, zu trainieren, mit Angst klar zu kommen, es ging um nichts anderes.
Bereits nach den Abstürzen des Hubschraubers und des Kampfflugzeugs waren die Russen ins Nachdenken gekommen. Doch aus diesem Wald zurückgezogen haben sie sich erst, als der Major einer Spezialtruppe mehrere Wochen nach einem Training im Wald in der Kaserne Amok lief und 32 Kameraden umbrachte. – Auch Selbstmorde sind vorkommen, wieviele wissen wir nicht.“
„Kann es sein“, fragte ich, „daß die Menschen, die keine Ehrfurcht vor dem Wald haben, eher Opfer des Waldes werden?“
„Nein. Ich kenne Rabauken und Grobiane, die der Wald nie geholt hat. Nach welchen Kriterien der Wald aussucht weiß nur der Wald – falls er Bewußtsein hat.“
„Und, was glauben Sie, hat er Bewußtsein?“
„Ich glaube nichts. Vielleicht hat er Bewußtsein, vielleicht nicht. Was macht das für einen Unterschied? Es ist wie es ist. – Ich höre nur noch auf meine Angst. Mein Training hier im Wald hat meine Angst trainiert. – Ihre Angst ist untrainiert. Sie müssen hier besonders vorsichtig sein. Und sobald Sie den leisesten Anflug von Angst spüren, seien Sie froh und gehorchen Sie umgehend und bedingungslos Ihrer Angst! Stellen Sie Ihre Angst hier im Wald nie in Frage! – Ihre Kinder sind gut, die sind ängstlich. Nur Ängstliche können wagen, hier im Wald zu bleiben. Wer keine Angst hat, für den ist das hier russisch Roulette.“
„Eines würde mich interessieren: Wie erklären Sie sich, daß offenbar viele Menschen sich gar nicht erst bei Ihnen für das Haus anmelden? – Wirkt der Wald etwa telepathisch durchs Internet?“ Ich konnte meinen Spott kaum verhehlen.
„Möglicherweise schreckt die meisten, ohne daß sie sich Rechenschaft darüber geben können, irgendetwas ab, wenn sie die Bilder vom See sehen, die wir ins Netz gestellt haben. Doch was nützen Spekulationen? Es ist, wie es ist. Jemand wie Sie findet das Abschreckende vielleicht gerade attraktiv. Das macht Sie hier besonders gefährdet!“ – Mit diesen Worten verabschiedete sich Frau K., denn es ging auf Acht zu.
Das Forsthaus lag in einem Funkloch. Mit der Welt verbunden waren wir nur über ein uraltes Telefonkabel. – Ich rief den Grafen an und fragte ihn, was von Frau K.s Schauermärchen zu halten sei. Er bestätigte ihre Angaben. Er bekräftigte allerdings, daß Wald und See völlig sicher seien, sofern wir die Warnungen streng beherzigen würden. Doch bot er uns an, wenn wir jetzt nicht mehr bleiben wollten, könnten wir gleich morgen wieder abreisen, er würde uns sogar noch die Unkosten für unsere Fahrt bezahlen.
Ich glaubte kein Wort von alledem, wenn mich auch das Verhalten meiner Töchter, und vor allem das Bobs, etwas verunsicherten, es war wirklich zu sehr gegen alle Erwartung. Aber meine Vermutung, daß der Graf bloß nicht wollte, daß wir quer durch seinen Wald latschten oder gar Opfer eines Jagdunfalls würden, wog weit schwerer. – Wieso fuhr der Förster regelmäßig die Waldwege ab, wenn weder Holz geschlagen noch Wild gejagt werden sollte? Wirklich bloß zur Wildbeobachtung, wie Frau K. erklärt hatte? Wildbeobachtung: Was sollte das denn bringen, wenn man nichts schießt? – Zudem spürte ich kein bisschen Angst, kein bisschen. Roberta auch nicht.
3
Da Roberta keine Lust hatte, noch einen Spaziergang zu machen, ging ich allein, ich liebe die Abendstimmung! – Ich wählte den hellen Weg am Seeufer entlang. Er bog nach einiger Zeit ab und verlief zwischen dem dichten Dunkel mächtiger Bäume und einem lichten Birkenwäldchen, das sich zum Seeufer hinzog und sich frei von Unterholz aus einem Teppich knietiefen Grases erhob. Ich verließ den Weg, es war einfach zu einladend, barfuß im Gras unter den Birken zu wandeln!
Nach einigen hundert Metern endete der Wald, ich sah über eine baumlose Senke hinweg, in der ein Ausläufer des Sees einen Morast geschaffen hatte, dicht mit mannshohem Gesträuch bewachsen, das drängende, eigentümlich dunkelgrüne fleischige Blätter trug. Auf der anderen Seite stieg das Gelände stark an, der Boden schien fester, sandig und steinig, mit strohigem Gras zwischen Kiefern. Die Wolken vertieften ihr Rot vor dunkelndem Blau.
Ich war an einem menschenvergessenen Ort! Der Welt hier schien es völlig gleichgültig, ob es mich gab, es war ihr völlig egal, ob sie für mich feindlich oder nicht feindlich war, so egal, daß ich schon so etwas wie Furcht verspürte.
Ich kehrte zurück ins Haus und fühlte mich um so mehr bestätigt, als ich keine einzige Zecke von meinem Ausflug jenseits der Wege mitgebracht hatte.
Lange hatte ich kein so eindrucksvolles Naturerlebnis mehr gehabt! Mit der Vorfreude auf weitere Streifzüge durch die Wildnis schlief ich ein.
Die Kinder waren erst dazu zu bewegen, ins Wasser zu gehen, als wir vorgingen. Ina tauchte mit Taucherbrille am Rande des „Tiefen“, da wo es abschüssig wurde und wir nicht mehr stehen konnten. Doch kaum war sie unter Wasser, als sie schon wieder nach oben schnellte und schreiend in panischer Hast ans Ufer floh. Ich tauchte sogleich an der gleichen Stelle, sah aber nichts außer – und ich gebe zu, daß auch ich ein leicht mulmiges Gefühl bekam, obgleich es faszinierend war: unterhalb der Stehgrenze wurde der See, trotz Sonne, ganz schnell dunkel, so schnell, wie es eigentlich gar nicht hätte sein dürfen, dabei war das Wasser nicht weniger klar als überall, es ließ aber kein Licht mehr durch! – Doch ich bin kein Physiker, was weiß ich, welche besonderen Umstände Einfluß auf die Lichtverhältnisse in Seen haben!
Alle Versuche, Ina zu beruhigen, scheiterten. Sie war seit dem nicht mehr zu bewegen, auch bloß noch die Füße in den See zu setzen – und Anna, angesteckt von der Furcht der Schwester, auch nicht.
Auch die weiteren Streifzüge jenseits der Wege mußte ich alleine unternehmen: Roberta hatte schon immer Angst vor Zecken, und nachdem, was Frau K. von den hiesigen Zecken erzählt hatte, war der Wald abseits der Wege für Ro völlig tabu und auch die Kinder bekamen strenges Verbot. Und ich mußte mich jeden Abend einer Ganzkörperinspektion unterziehen – was unserer Liebe natürlich entgegenkam.
Tag für Tag streifte ich stundenlang durch die Wildnis, nie erlebte ich auch nur ein Quentchen Gefahr, nicht mal ein schimpfend Reißaus nehmendes Schwein. Das bestätigte mich in meiner Sicherheit. Außerdem: daß Jäger und Soldaten wenig Ehrfurcht vor dem Wald hatten, war doch klar, und selbst Förster hatten wirtschaftliche und naturwissenschaftliche Interessen! Leute wie ich dagegen konnten sich frei von allem Handlungsdruck der Faszination der Wildnis und der Baumriesen hingeben! Gegen Leute wie mich braucht sich die Natur nicht zu wehren! – Doch mußte ich über diesen Gedanken schmunzeln, weil ich damit ja doch wohl unbewußt erwogen hatte, ob an den Warnungen von Frau K. was dran sein könne.
Die Töchter wurden zunehmend ungehaltener: Sie wollten wieder weg. Das Wasser war ihnen verleidet, Wanderungen waren noch nie ihre Sache gewesen, durch den Wald streifen durften sie nicht wegen der Zecken, auf dem Grundstück spielen war auf Dauer langweilig und mit Bob konnten sie nicht viel anfangen, er kam nur zur Notdurft aus dem Haus. So blieb ich alleine hier. Ro wäre zwar auch gerne noch länger geblieben, aber ihr war der Aufenthalt hier nicht so wichtig wie mir. Sie reiste um der Kinder willen mit ihnen und Bob am 4. Tag ab. – Als Frau K. sie holen kam, verriet ich nichts über meine Ausflüge ins Unerlaubte, sondern bekräftigte im Gegenteil, wie dumm es wäre, die Wege zu verlassen, es sei hier doch überall wild, mächtig und schön.
In den darauffolgenden Tagen bekam ich mehr und mehr das Gefühl, nur weitab von den Wegen frei atmen und jenes Wesen sein zu können, das ich wirklich war, ohne Verstellung, ohne Kompromisse. Nur hier, weitab alles Menschlichen, war Dasein. Täglich durchstreifte ich Wald und Sümpfe, stundenlang, und kehrte erst Abends ins Haus zurück, nahezu trunken von meinen Erlebnissen: die lässige Selbstverständlichkeit, mit der die mächtigen Bäume sich in unglaubhafte Höhen reckten – das bösartig lockende Lächeln der Gräser – die verschwiegene Einvernehmlichkeit des Sumpfgesträuchs – die lauernden Moore – und das unergründliche Dunkel des Sees, der den Mittelpunkt des Waldes bildete.
Zunächst fiel mir auf, wie unangewiesen hier alles auf Menschen war, beängstigend unangewiesen. – Dann wurde mir klar: Wir waren hier nicht nur völlig unnötig sondern auch unwillkommen – aber – und das machte das Gefühl der Unwillkommenheit schwer erträglich: unsere Unwillkommenheit störte nicht im Geringsten den Gleichmut des Ortes, wir waren ihm einfach egal, erschreckend egal.
Nach und nach erlangte ich Bewußtsein: Das Leben genügt sich an solchen Orten selbst und will für sich bleiben, gleichgültig, unerbittlich, ja feindselig gegen jedes Wesen, das anschaut, bewertet, plant und eigenschöpferisch eingreift. Die Gelassenheit, mit der es uns ignoriert, verstärkte mein Gefühl völliger Ohnmacht. Egal, wie zerstörerisch wir sind: das Leben läßt uns gewähren, nicht sehr überzeugt weder von uns, noch von seinem Entschluß, uns nicht zu vernichten. Wir sind zu klein, um eine Größe im Dasein zu sein, mit der das Leben sich abgibt. Selbst wenn wir einen nuklearen Winter anrichten würden, wäre das für das Leben nur eine glatzenhafte Episode. Es würde nachwachsen, unbekümmert über jedes Ausmaß von Tod und Verstrahlung, denn selbst, wenn es ganz neue Formen entwickeln müßte: es hat es nicht eilig, es hat alle Zeit der Welt.
Wandelte ich unter den mächtigen Bäumen, war mir, als würde ich verschwinden, so nichtig kam ich mir vor. – Die Sträucher in den sumpfigen Senken schienen mich dagegen vage zu spüren, wie ein Stück unverdauter Nahrung. Doch sie ließen sich nicht das Geringste anmerken, sie bewegten sich mit dem Wind, als ob ich nicht da sei. – Aber es war etwas in der Luft, unsichtbar! So sehr ich mich auch damit zu beruhigen versuchte, daß hier die Luft feuchter sei, wußte ich doch: es war nicht die Feuchte, es war etwas anderes: Schlierenhaft drang der Atem der wuchernden Pflanzen in meine Lunge, löste sich in mein Blut und veränderte mich. Ich fürchtete es, denn ich spürte, daß es mich auf Dauer zersetzen würde, aber dennoch verlangte mich danach, wie nie im Leben mich nach irgendwas verlangt hatte, es war stärker selbst als mein Verlangen, mich in der Liebe an Roberta zu verlieren.
Ich weilte immer länger abseits der Wege, schließlich übernachtete ich in den heißen Nächten sogar in der Wildnis. – Dann wurde unabweisbar, was ich bereits mehrmals meinte vernommen zu haben: Ein Summen wie von einem Bienenschwarm. Ich dachte zuerst auch, es sei einer. Aber dann wurde es lauter und immer lauter, und es schien aus allen Richtungen zu kommen, ja, es war überall in der Luft! Es war ein Geräusch zwischen Summen und Rauschen, es war bedrohlich – es lag eine vage, unterschwellige Aggression darin – aber es war auch angenehm: Ich hörte den Wald leben!
Wenn ich zurückkehrte ins Haus, um zu essen, um Frau K. wegen Einkäufen anzurufen, aber vor allem: um mit meinen drei Mädchen zu telefonieren, kam ich wieder zu mir. Es war wie das Erwachen aus einem Rausch.
Ich bekam mehr und mehr das Gefühl, mit meinen Streifzügen nicht etwas Gutes zu tun, sondern etwas Böses, etwas Zersetzendes. Aber dieses Böse schien mir zunehmend wertvoller, älter, ursprünglicher, berechtigter, als das Gute, als das für die Menschen Sinnvolle, Förderliche und Bewahrende.
Frau K., wenn sie mir die Einkäufe brachte, schaute mich zunehmend skeptisch an, wenn ich überschwenglich lobte, wie gut die Waldwege durch das Gebiet führen würden, so daß im Erleben der großartigen Natur nichts zu wünschen übrig blieb und nur Narren auf die Idee kommen könnten, die Waldwege verlassen zu wollen.
4
„Was machst du? Ich hab dich drei Tage nicht erreicht!“ klang Ro eines Abends vorwurfsvoll durchs Telefon, „Frau K. hat mich angerufen, du warst zum verabredeten Abreisetermin nicht da, sie sagte, du hättest nicht mal gepackt! Sie sagt, das sei zwar nicht schlimm, weil sich keine weiteren Gäste angemeldet hätten, aber sie hätten Sorge um dich und sie wollten dich suchen! – Was ist los?“
Ich konnte mich mit Faseleien von „grandiosen Naturerlebnissen“ herausreden. Dann rief ich Frau K. und den Grafen an, und entschuldigte mich. Aber ich war schon nicht mehr bei Sinnen, ich lief sofort hinaus, es war eine der herrlichsten und heißesten Nächte, die ich je erlebt habe!
Ich blieb mehrere Tage im Wald. Von Ferne beobachtete ich Frau K., den Grafen und Forstleute, die ich nicht kannte, wie sie mich suchten und nach mir riefen, mich warnten, flehten, ich möge heraus kommen. Aber ich wich ihnen aus, wie ein scheues Tier.
Am nächsten Tag gab es einen der heftigsten Gewitterstürme, die ich je erlebt habe, dann wurde es wieder trocken und klar, aber bitterkalt. Die Kälte hielt den nächsten Tag an, und in der Nacht trieb sie mich ins Haus.
Dort warteten Frau K. und der Graf. „Schön Sie zu sehen“, begrüßte mich der Graf mit aufrichtiger Herzlichkeit, „wie geht es Ihnen?“ Beide schienen erleichtert. – Meine Sachen waren bereits verstaut und wir fuhren nach Sonnenaufgang sofort zurück.
Unterwegs erfuhr ich, daß ein Tornado, bei dessen Zustandekommen der klimatische Einfluß des Waldes ein wesentlicher Faktor gewesen sei, die umliegenden Dörfer verheert habe, man zähle bis jetzt 23 Tote.
Während der Graf mir von der Naturkatastrophe berichtete, saß Frau K. – ich sah sie im Rückspiegel – mit zusammengekniffenem Mund da. Obschon Frau K. einmal eine Schönheit gewesen sein mußte mit ihren geistvollen, ebenmäßigen Gesichtszügen, wirkte ihr Gesicht jetzt weder männlich noch weiblich, hier war nur noch ein Mensch zu sehen, ein Mensch in Wut, Wut auf mich! Sie glaubte wirklich, der Tornado habe zu tun mit meinen vorbehaltlos bejahenden Streifzügen durch den Wald. Sie konnte den Rausch, der mich ergriffen hatte, offenbar nachvollziehen, aber sie billigte nicht meine Hingabe. Es war Wut, was sie gegen mich hegte, kein Haß. Haß zeigte sich erst, als sie vom Wald zu reden begann, sie haßte den Wald, sie haßte die Natur, das Menschenübersehende, das Menschenverachtende, das Widermenschliche, das Böse!
Ich übernachtete beim Grafen, weil Roberta erst am nächsten Tag kommen konnte. Abends, bei einem 25 Jahre alten Whisky, saßen wir zusammen, der Graf interessierte sich für meine Erlebnisse.
Ich fragte ihn, ob Frau K. ernsthaft glaube, daß der Tornado mit meinem Übertreten der Wege zu tun habe. Der Graf meinte: Er neige zu dem gleichen Glauben, er sei bloß deshalb nicht sauer auf mich, weil er sich vorstellen könne, wie unglaubhaft die Warnungen für moderne Städter klingen müßten. – Im übrigen freue er sich, daß wenigstens mir nichts passiert sei. Ich solle mir bloß nicht einbilden, das sei mein Verdienst. – Ich fragte ihn, wie er die Einflußnahme des Waldes auf das Geschehen erkläre. Er meinte, der Wald würde nichts absichtlich herbeiführen, er würde lediglich das, was sich ansatzweise so oder so ergebe, ein wenig anstoßen, akzentuieren, ein wenig verstärken, so stelle sich das gestörte Gleichgewicht wieder her.
„Und was glauben Sie: Meine ‚hemmungslos zustimmende Hingabe‘, wie Frau K. das nannte, welches Gleichgewicht soll dadurch so aus der Fassung gebracht worden sein, daß ein Tornado mit 23 Toten nötig war, um es wieder einzurenken?“
„Keine Ahnung“, erwiderte der Graf, „was wissen wir schon? – Womöglich ist ja die ganze Welt im Ungleichgewicht, aber das Leben denkt in Jahrtausenden, es hat viel Zeit sich ins Gleichgewicht zu bringen, es hat es nicht nötig, etwas zu forcieren oder sich anzustrengen, es gibt bloß seinen Tendenzen nach, da wo sich eine Gelegenheit bietet – wie z.B. die vorgestrige Wetterlage. – Und ob und wie Sie damit zu tun haben – wer weiß? Vielleicht ist alles bloß eine zufällige Koinzidenz. Vielleicht aber auch nicht. – Was nützen Spekulationen? – Zur Sicherheit sollten wir darauf verzichten, zudringlich zu sein. Das ist eine Sicherheit, die uns denkbar wenig kostet: Wo ist das Problem, es einfach sein zu lassen, sich durch’s Gestrüpp zu zwängen!“
Zurück in Berlin nahm mich der Alltag schnell wieder gefangen. Doch schon zwei Wochenenden darauf fragte ich Roberta, ob sie nicht noch mal mitkommen wolle ins Forsthaus, ein Wochenende wandern. Sie wollte, doch der Graf teilte uns mit, er dürfe das Haus nicht mehr vermieten, das ganze Gebiet sei jetzt Sperrgebiet, es werde abgezäunt. – Schon länger hatten die Behörden wegen der häufigen Todesfälle soetwas erwogen. Bei dem Unwetter war eine Schulklasse vor dem Starkregen in den Wald geflüchtet, unter eine Eiche, ein Blitz hatte einen Ast abgesprengt, zwei 14-jährige Mädchen starben, ein weiteres wurde schwer verletzt, die Lehrerin verstarb wenige Stunden später an einem Herzinfarkt.
Ich wollte die Sperrung nicht akzeptieren und fuhr dennoch hin. – Ro war sauer, weil sie mein Verhalten dem Grafen gegenüber nicht in Ordnung fand. – Die Arbeiten an dem Zaun waren noch nicht weit gediehen und am Wochenende waren die Baustellen verwaist. So war es kein Problem, wieder in den Wald zu kommen. Am Abend war ich zurück in Berlin.
Das nächste Mal, einen Monat später, war der Zaun fertig, aber er war relativ leicht überwindbar. – Im Herbst entdeckte man zwei weitere Tote im Wald, die sich über den Zaun ebenfalls hinweggesetzt hatten: Einer hatte sich verirrt und war erfroren, ein anderer war im Sturm von einem Ast erschlagen worden. – Ich fuhr dennoch fast jeden Monat einmal hin, mich verlangte unwiderstehlich nach dem Erlebnis der Wildheit. – Im Winter hatte sich wieder ein Mensch im Wald verirrt und war erfroren, zwei andere auf dem Eis eingebrochen und ertrunken. Im Frühjahr wurde der Zaun durch einen höheren ersetzt. – Ich rüstete mich mit Leitern aus: eine zum Hochsteigen, eine zum Runtersteigen auf der anderen Seite. – Ro hielt mich für übergeschnappt, ließ mich jedoch gewähren. Jedoch wurde das Klima zwischen uns zunehmend gereizt.
Bald reichte mir ein Tagesausflug nicht mehr. Ich besorgte mir einen Schlafsack und verbrachte zunächst ein Wochenende pro Monat im Wald, später auch zwei.
Ro war sauer, Anna und Ina enttäuscht, denn sie hatten jetzt immer weniger von mir – und zwar nicht nur, wenn ich im Wald war: Ich war nervös geworden, hielt es zu Hause nicht lange aus, und verbrachte immer mehr Zeit an der Orgel. Das barocke Idiom, in dem ich bisher improvisiert hatte, gefiel mir nicht mehr, es war zu „aufgeräumt“, zu klar, zu logisch, ich begann, spätromantisch zu improvisieren und konnte nicht genug kriegen vom Schwelgen in vielfarbiger, üppiger Harmonik und formaler Grenzenlosigkeit.
Es kam dahin, daß meine Familie mich kaum noch zu Gesicht bekam. Die Zeit, in der ich meiner beruflichen Pflichten entbunden war, verbrachte ich entweder im Wald oder an der Orgel. Ro verlangte mehr Zeit für sie und die Kinder. Ich versprach alles, dachte aber nicht daran, irgendetwas davon zu halten. Ich teilte Ro auch nicht mit, als die Hochschule mich vor die Tür setzte wegen immer häufigerer Versäumnisse meiner Lehrverpflichtungen. Das merkte sie erst an der Ebbe in der Familienkasse. Als sie mir nach zwei Jahren ein Ultimatum setzte, war ich nicht einmal mehr erschrocken darüber, daß mir das völlig gleichgültig war. – Das einzige, was noch wirklich schmerzte, war der Blick von Anna und Ina, als ich meine Sachen holte.
Abgemacht war, daß die beiden jedes zweite Wochenende bei mir sein sollten. Aber ich kümmerte mich kaum um sie, ließ sie stundenlang allein, so daß sie begannen – ein 13 und ein 11 jähriges Mädchen! – allein durch Berlin zu streifen.
Eine Vorladung vom Jugendamt führte wenigstens dazu, daß ich den Kindern länger beim Musizieren zuhörte – das ging, das taugte als Gegenkraft gegen mein Verlangen, wild auf der Orgel zu improvisieren. – Anna zeigte ich immer bösere Tricks, wie sie ihre Improvisationen alterationsharmonisch erweitern konnte, so daß es immer mehr nach einem übergeschnappten Scarlatti klang. – Ina konnte ich nichts zeigen, aber ich brauchte ihr auch nichts zu zeigen: Sie begann ihre eigenen Freiheiten zu entwickeln – Freiheiten, die mich mehr und mehr erstaunten. Obwohl ich im Jazz nicht heimisch war, hörte ich Ina nach einigen Jahren lieber und faszinierter zu als Anna.
Vom Wald wollten die beiden nichts wissen. Sie verboten mir barsch den Mund, wenn ich davon reden wollte. Daran, sie mal mitzunehmen, war gar nicht zu denken.
Ich lebte – mehr schlecht als recht – von Konzerten. Meine wilde, spätromantische Musik lockte mehr Menschen an, als vorher mein barocke. Ein Agent war auf mich aufmerksam geworden und nahm mir alle Arbeit ab. Es gab zwar nicht viele Konzerte und keine gut bezahlten, aber ich konnte davon leben.
Ich lebte nur noch für den Wald. Beim Improvisieren war ich nur körperlich an der Orgel. Ich sah die wilden Sümpfe mit ihrem wuchernden Wachstum, die Flanken der Hügel mit ihrem lockenden hohen Gras unter lichten Birken, ich sah die Dämmerung zwischen den mächtigen Bäumen, ich sah den See, das Heraufschimmern seiner Schwärze, eingefaßt von grinsendem Schilf. Ich hörte die Schreie riesiger Raubvögel und weidete mich am Schrecken beim Anblick des verzweifelten, aussichtslosen Windens riesiger fleischiger Insekten unter einer erbarmungslosen Woge winziger Ameisen. – Ich war nicht mehr da.
Nur zweimal in der Woche noch kam ich zurück, dank Ro und Amt, die mir durch ihre Resolutheit ermöglicht hatten, zwei Luftblasen zu entdecken, zu denen ich auftauchen konnte: Anna und Ina, wenn sie improvisierten.
21 und 19 waren meine Töchter, als ich Berlin verließ. Wäre ich vorher gegangen, wären noch mehr Menschen am Leben. Doch diese Schuld nahm ich gerne auf mich um meiner Töchter willen.
5
Der Tornado hatte den Wald bekannt gemacht. Durch seine hermetrische Absperrung zog er nur noch mehr Menschen an. Im Dark-Net gab es Foren, die dem Aufenthalt im Wald legendäre Wirkungen zuschrieben, und die Überwindung der Absperrungen diskutierten.
Viele, die hineingingen, kamen nicht mehr heraus. Sie wurden Opfer der Hornissen, der Schweine, der Kälte, der Bäume, der Sümpfe oder des Sees – oder Opfer ihres eigenen Herzens: immer wieder traf dort jemanden der Schlag.
Und die herauskamen, blieben nicht gesund: Ihr Hirn nahm Schaden von den Zecken oder sie verfielen dem Wahn, der Schwermut oder dem Trunk. Einige brachten sich hinterher um. Und der Norden wurde Jahr für Jahr heimgesucht von Stürmen und Unwettern, die Menschen verschlangen und Ernten zerschlugen. – Auch der Graf war in seinem Wald umgekommen: verbrannt in seinem Forsthaus, aus Unachtsamkeit, wie es amtlicherseits hieß. – Frau K. war 2 Jahre darauf – mit 89 – an Demenz erkrankt, und hatte sich nach der Diagnose erschossen.
Und mir schien immer unabweisbarer: daß ich schuld war an alledem, ich allein, daß der Wald durch mich, durch meine von mir nicht bezwingbare Hingabe und Zustimmung so stark geworden war, eine Zustimmung, die so nur wenige Menschen leisten können, nur besondere Menschen, die einen besonderen Zugang haben zum Willen – ja, Schopenhauers Wort trifft es am besten: einen besonderen Zugang zum Willen, zum Urgrund der Urkraft die das Leben hervorbringt! Ihr heißt meine Worte schwülstig und es kann gar nicht anders sein, daß es euch so erscheint, ihr, die ihr dem Menschensinn verhaftet bleibt – und gut daran tut, ihm verhaftet zu bleiben!
Ich habe mich vom Menschsein entfernt, weit entfernt. – „Sonstige wahnhafte Störung“ nennen es die Psychiater und behaupten, ich hätte ein geschlossenen Wahnsystem entwickelt. – Sie können nicht anders, als es so zu sehen, und sie tun gut daran, es so zu sehen.
Eine blasphemische Verbindung habe ich wachsen lassen zwischen mir und dem Willen, dem Bösen mit seiner feindseligen Gleichgültigkeit gegen das Menschliche. Eine bösartige Synergie wurde dadurch freigesetzt, die zu immer größeren Schäden führte!
Doch meine Verbindung zum Menschlichen riß nie ab, das Böse hat mich in der Hand, aber ich überlasse mich ihm nicht völlig. Deshalb zog ich fort, um meine Besuche und damit die Freisetzung böser Energie zu unterbinden. Und ich wußte: überall würde ich solche Orte finden, Orte, an denen das Böse bloß liegt. Daher mußte ich in die Städte, in die größten.
Ich lebe in London, ärmlich, denn nach wie vor bin ich nicht in der Lage, einer geregelten Berufstätigkeit nachzugehen. Ich nähre mich kümmerlich von meinen Auftritten als Improvisator. Ich glaube, der Agent verdient daran mehr als ich, aber er ist meine einzige Verbindung zur Menschenwelt, die lasse ich mir etwas kosten. Denn ich habe Angst, Angst, dem Bösen ganz ausgeliefert zu sein. Es wird mich holen, das weiß ich, im Tod werde ich meine Kraft zum Widerstand verlieren. Es wird mich holen und dann wird eine Zeit unausdenkbarer Schrecken für mich anbrechen:
Ich bin zu weit gegangen, ich habe mich der großen unmütterlichen Hervorbringerin überlassen, alles, was an mir Nicht-Ich ist, Urwille, ist mit ihr, der Urwillin, verschmolzen. Unmütterlich ist sie, Schöpferin ohne Fürsorglichkeit, wie die Schildkröte, die Jahr für Jahr ihre Eier im Sand vergräbt und der Sonne überläßt, sie zu brüten. Ina hat es gleich erkannt: es ist weiblich, übermächtig, unbarmherzig, bewußtlos. Ina spürte, daß es uns zerstört. Ich, der Erwachsene, vermaß mich, es nicht zu meiden, und bin verloren. – Man redet jetzt von dunkler Materie und dunkler Energie – aber es gibt auch dunkles Leben, in jedem von uns.
Wenn es mich hat, wird es versuchen – ohne Absicht, ohne Bewußtsein, einfach nur, weil es wirkt, was es wirkt – wird es versuchen, den Fremdkörper, meinen Geist, aufzulösen mit immer neuen Mitteln. Aber der Geist ist unsterblich. Ich werde mit Bewußtsein ständig neue Formen meiner Zersetzung erleben, ich werde mich winden verzweifelt und aussichtslos wie ein fleischiger Falter, der mit seinen Flügeln hätte entfliehen können, aber einen Augenblick zu lange wartete und nun vergeblich versucht, den Ameisen zu entrinnen.
Aber ich weiß: Ina wird mich erlösen dereinst. – Ich höre alle ihre Konzerte. Sie hat eine Art Free-Jazz entwickelt – für Kontrabaß-Solo! – unerhörte Musik, voll Drang und Kampf, voll Widerstand und Rebellion – aber nie ohne Zärtlichkeit und Hoffnung.
weiterlesen, die nächste Fantasie: „Wozu“ (eine Erwiderung auf Hermann Hesses „Indischen Lebenslauf“)
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