Der Anwender – oder: kumulative Effekte

Daniel Seefeld

Der Anwender – oder: kumulative Effekte

(Lesezeit: 5 Minuten)

Wir stiegen auf, weil das Objekt zwar geantwortet hatte, aber – wie der Leiter der Flugüberwachung sich ausdrückte – nur um ihn zu „verarschen“. – Es handelte sich um ein riesiges Flugobjekt, vermutlich ein Spionageluftschiff, das abseits der Flugrouten und außerhalb aller Hoheitszonen mit einer Geschwindigkeit von 40 Stundenkilometern vor sich hin bummelte.

Wir waren zu zweit, zwei schwerbewaffnete Kampfjets. Wir sollten uns das Ding aus der Luft ansehen, und es zur Sicherheit, auch wenn das widerrechtlich war, weil es keinen Luftraum verletzte, zu Kursänderung und Landung auf unserer Luftwaffenbasis zwingen.

Ich dachte, ich spinne! Ich sah einen Obstgarten, in dem Schafe weideten! Er befand sich auf einer etwa 10 m hohen Bodenplatte unter einer flachen ovalen Glaskuppel, etwa 500 Meter lang und 300 Meter breit. An beiden Enden war soetwas wie ein gemütliches großzügiges Wohnzimmer eingerichtet. Und schließlich sah ich einen Menschen, der uns zuwinkte! Als wir Funkkontakt aufnahmen erklang die Stimme eines alten Mannes: „Hallo, ja, Ihre Kollegen sagten mir schon, daß sie jemanden hochschicken würden. Seien Sie willkommen! Sie sind wahrscheinlich sehr verwundert! Es würde mich riesig freuen, wenn Sie mir einen Besuch abstatten würden, dann kann ich Ihnen alles zeigen. Geben Sie Kurs und Geschwindigkeit ein, das Andocken geht vollautomatisch!“

Aus Spaß schauten wir, was geschah – und tatsächlich, das Ding holte uns ein! – Wir waren über das alles so überrascht und perplex und von der einladenden Freundlichkeit des Alten so eingenommen, daß wir einfach weitermachten mit dem Andockmanöver, obwohl es natürlich unprofessionell ist, die Einladung eines UFO´s anzunehmen.

Ein älterer Herr um die 70 begrüßte uns herzlich. Er führte uns auf seinem Luftschiff herum. Es war ein autarker, geschlossener ökologischer Kreislauf. Alle Arbeit wurde von kleinen Robotern erledigt – keiner davon sah übrigens menschenähnlicher aus als ein Staubsauger, alle waren rein funktionale Gestänge und Gehäuse. – Die Arbeiten, die der Alte für sich übriggelassen hatte, bestanden in der Zubereitung der Speisen, und der Pflege der Tiere, er molk sie und verarbeitete die Milch weiter zu Yogurt und 11 verschiedenen Käsesorten. – Erklären konnte der Mann uns nichts von alledem, was wir hier sahen.

„Aber wie sind Sie denn zu all dem gekommen?“, wollten wir wissen. Daraufhin erzählte er uns seine Geschichte:

„Ich bin leider nicht gut ausgestattet worden von der Natur. Ich bin klein und schmächtig, nicht besonders intelligent und habe kein gutes Gehirn. Schon in der Schule hatten die Ärzte festgestellt, daß ich meine Bewegungen nicht so gut koordinieren kann wie andere, ich bin von Natur aus etwas täppisch. Und geistig bin ich schnell erschöpft, ich habe keine große Aufmerksamkeitsspanne. So war ich nie zu etwas zu gebrauchen: Meine Kameraden fanden es blöd, mich beim Fußball mitspielen zu lassen, denn meine Mannschaft hatte immer einen Mann weniger, und nicht selten schoß ich aus Versehen Eigentore. In der Schule galt ich als trübe Tasse, bei den Lehrern sowieso, aber auch bei den Mitschülern. – Naja, und da können Sie sich vorstellen, daß ich den Mädchen auch nicht viel zu bieten hatte. Bei den Schönen bin ich abgeblitzt, die andern haben mich nicht interessiert.

Ich schaffte mit Ach und Krach den mittleren Schulabschluß und die kaufmännische Lehre. Und dann habe ich im Büro gearbeitet. Ich war ganz gut gelitten bei den Kollegen und beim Chef, weil ich unkompliziert, hilfsbereit und verläßlich war. Aber ich habe alle immer genervt, weil ich so viele Fehler machte. Ich bin der Inbegriff von einem Schussel.

Später stellte sich heraus, daß auch Kinder mich nicht besonders mögen. Ich glaube, für Jungs bin ich keine Identifikationsfigur, und Mädchen finden mich zu wenig väterlich. Jedenfalls, die Kinder sind nicht sehr interessiert an mir.

Also: Im Beruf war ich an der Grenze zur Untragbarkeit, Männer ignorierten mich, Frauen ließ ich kalt und Kinder konnten mit mir nichts anfangen. – Oh, das klingt jetzt alles viel schlimmer, als es war. Sicher, toll fand ich das nicht. Aber was sollte ich mich grämen? Es war wie es war! Ich war den Menschen nicht böse. Ich konnte ja nachvollziehen, daß sie mit mir nicht viel anfangen konnten! Außerdem hatte ich das Glück, daß ich was hatte, was ich gerne mache, ganz für mich allein. Kommen Sie, ich zeigs Ihnen!“

Damit verließen wir das Sofa, von dem wir gerade das Panorama der Antarktischen Gebirgszüge genossen, und an dem der Alte uns vorzüglichen selbst gezogenen Kaffee serviert hatte. Er führte uns in einen weiten hellen Raum und wir erblickten – ein Spielzeugland: Er hatte aus Bauklötzen Städte gebaut mit virtuos equilibrierten grotesken Türmen, zwischen denen ein Lego-Bahn-Netz verlief. Dabei hatte er das Legosystem regelrecht ausgetrickst: Es gab Ein-Schienen-Bahnen, die die Türme mit einander verbanden. Er hatte dafür ganz spezielle Problemlösungen gefunden, denn eigentlich kann man mit Lego so was gar nicht bauen. Außerdem hatten die Züge keine Motoren, sondern er hatte ein System ausgeklügelt, sie an Fäden durch die Städte zu kurbeln. „Wenn ich mir nicht gerade die Welt von oben anschaue, verbringe ich meine Zeit hier“, erklärte er.

„Ich war 47, da starb mein Vater. Er hinterließ mir ein Haus, das ich für 200 000 € verkaufte. Da dachte ich: Jetzt steig ich aus! Wenn keiner was mit mir anfangen kann, vermißt mich auch keiner, da kann ich mich ohne schlechtes Gewissen zurückziehen.

Ich hatte bis dahin – das war 2003 – nicht groß was mit Internet und so zu tun gehabt. Computerkenntnisse hatte ich nur von der Arbeit. Ich habe das mit den Computern nie so gemocht, wissen Sie, ich bin ja aufgewachsen, als es das noch gar nicht gab, ich hatte immer meine Bauklötze, mich hat Elektrogedöns nie groß interessiert. – Naja, als ich dann meine Stelle gekündigt hatte, hatte ich viel Zeit, im Cafe zu sitzen und Zeitung zu lesen. Und da las ich dann so allerhand von nützlichen Dingen, 3-D-Drucker z.B., durch die man vieles selber machen konnte. Das war ja für mich sehr wichtig, bis zur Rente hatte ich ja noch 20 Jahre, die ich mit meinem kleinen Vermögen überbrücken mußte, und meine Rente würde sehr klein sein.

Ich kaufte mir also solche nützlichen Sachen. Und ich suchte mir Softwär, mit der man ebenfalls vieles selber machen konnte. Natürlich gab es nicht genau die, die ich brauchte. Also suchte ich mir Softwär, die Softwär entwickeln konnte, und als das auch noch nicht reichte, ließ ich von der Softwäre eine Softwär entwickeln, die Softär entwickelnde Softwär entwickeln konnte. Aber glauben Sie nicht, ich hätte von all dem irgendeine Ahnung gehabt! Ich hatte gar keine Ahnung. Und das brauchte ich ja auch nicht, die Ahnung steckte ja alle in der Softwär drin. Ich hab bloß rumgespielt und rumprobiert und dann kam irgendwann immer was Brauchbares raus.

Irgendwann hatte ich dann ein Programm, das einen 3-D-Drucker entwickelte, dessen Teile ich mit dem Drucker, den ich gekauft hatte, drucken konnte, der aber weit besser war als der gekaufte. – Ja, und so ging das weiter: Ich druckte Drucker, die Teile für noch bessere Drucker druckten. Und schließlich hatte ich Drucker, die Roboterteile drucken konnten, für Roboter, die entwickelt worden waren von einer Softwäre, die von meiner Softwärentwicklungssoftwär entwickelt worden war.

Die ersten Roboter mußte ich noch selber zusammenbauen. Sie hatten bloß die Aufgabe, Roboter zu bauen, die ich nicht mehr selber zusammenbauen konnte. Und die bauten dann Roboter, die ich brauchte, um Roboter zu bauen, die noch mehr konnten. – Ja, und irgendwann dachte ich: Is ja toll, was die so alles können. Da könnte ich doch vielleicht mal was ganz Großes bauen! So kam ich auf die Idee dieses Luftschiffs.“

Plötzlich wurde der Alte verlegen. „Ich hoffe, Sie verpetzen mich jetzt nicht“, meinte er, „ich brauchte natürlich ein großes Gelände für mein Schiff und jede Menge Material. Und da war so ein riesiges verlassenes Industriegelände. Da war natürlich „Betreten verboten“. Naja, da habe ich mir herausgenommen, das zu mißachten. Naja, und ich mußte natürlich auch was von dem Schrott, der da rumlag, stibitzen.

Das schwierigste war das Energieproblem. Dafür ließ ich die Softwär Softwär entwickeln, die aus dem Internet alles recherchierte, was Softwär braucht, um das Energieproblem zu lösen. Irgendwann hatte ich dann eine Formel – ich selbst konnte damit gar nichts anfangen, für mich war das wie Buchstabensalat – aber meine Softwär konnte damit was anfangen und speiste damit meine Roboter bauenden Roboter, um Roboter zu bauen, die schließlich die Maschine bauen konnten, die Sonnenenergie in Gravititationsenergie verwandelt.

Aber wissen Sie, woran bald alles gescheitert wäre? Den Garten zu bauen! So daß das jetzt so ein Kreislauf ist und ich nichts dazu tanken muß, außer ab und zu ein bisschen Meer für Wasser und Salz. Aber auch alles dafür Nötige hat eine Softwär aus dem Internet gezogen. Und eine andere hat es in die Form eines Computerspiels gebracht und damit so lange rumgespielt, bis das hier herauskam. – Fragen Sie mich also nicht, wie ich das hier gemacht habe, ich habe es nicht gemacht, ich habe nur Sachen gefunden, die nützliche Dinge machen konnten. Das ist alles!“

Wir glaubten ihm kein Wort. Ich nahm Verbindung auf mit meinem Vorgesetzten, erstattete Meldung, daß wir die Kontrolle über das Luftschiff übernommen hätten und weitere Befehle erwarteten. – Der Alte war mir sympatisch, auch wenn ich überhaupt nicht wußte, was ich von der ganzen Geschichte zu halten hatte. Ich hatte etwas Sorge, was die wohl mit ihm machen würden. Es gelang mir, mir auszubedingen, daß ich, als derjenige, der den Erstkontakt hatte, die weiteren Schritte als Vermittler begleiten dürfe. Es geschah nichts Schlimmes, ich hätte gar nicht dabei sein müssen. Aber jedenfalls kann ich jetzt von all dem berichten:

Der Alte wurde gebeten, zu rekonstruieren, was er gemacht hatte. Er hatte sich aber nichts  gemerkt, schon allein deshalb nicht, weil er meist gar nicht verstanden hatte, was er da eigentlich gemacht hatte, er hatte bloß „rumprobiert“, wie er selbst sagte. Und er war nicht im geringsten daran interessiert gewesen, es zu verstehen, ja nicht einmal, es zu wiederholen. Er wollte bloß nützliche Dinge für sich selber haben, um später, wenn er auf seine kleine Rente angewiesen war, etwas sparen zu können. Das Meiste war durch Prozesse zustande gekommen, die die Maschinen völlig eigenständig vollzogen hatten. Er hatte meist nur auf das Feld „weiter“ geklickt. Die Maschinen hatten sich dabei selbsttätig so verändert, daß sie nicht mehr mit unseren Computern kompatibel waren. Wir bauten eine Kopie des Schiffs und kopierten alle Software. Aber bis heute ist es noch nicht gelungen, einen Zugang zu den Programmen zu finden, geschweige denn, den Schwerkraftgenerator zu verstehen.

Der Alte wurde untersucht und seine Lebensgeschichte wurde überprüft. Wir konnten nicht die geringsten Indizien für unsere Vermutung finden, daß er in Wirklichkeit ein Genie sei, das versuche, uns etwas vorzumachen. Nein, er war tatsächlich in allen gemessenen Bereichen im unteren Durchschnittsbereich, auch wenn er zweifellos eine gewisse kreative und kombinatorische Begabung besaß. Seine Erfolge waren bloß auf Glück zurückzuführen – und natürlich auf die Intelligenz der von ihm benutzen Programme.

Aber da er sein Leben lang ein ziemlich armer Kerl gewesen war, konnten wir ihm dieses Glück gönnen. So nett er auch war, im Grunde war er eine ziemlich trübe Tasse.

So ließen wir ihn schließlich weiter fliegen, und da fliegt er noch.

 

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