„Das ist der Weisheit letzter Schluß“: Der Ausgang der Wette

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Inhalt
(1) Warum der Teufel die Wette nur halb gewonnen hat (Lesezeit: 3 Minuten)
(2) „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß!“ – Warum Faust die Wette auch halb gewonnen hat (Lesezeit 2 Minuten)

(1) Warum der Teufel die Wette nur halb gewonnen hat

Faust stößt schließlich doch auf etwas, das die Leiden des Lebens mit den Ansprüchen seiner Würde so versöhnen kann, daß es das fortwährende Kopfzerbrechen über das Dasein entbehrlich macht: Er erkennt den Wert von guten Werken. Für das, was er selber an guten Werken für die Menschheit leisten will, will Faust keinen Ruhm, das wäre wieder tierisch, es kommt ihm allein auf die Tat an. Er hat den Sinn entdeckt, aber die Wette verloren.

Doch der Sinn läßt sich nicht einordnen in Fausts Vorstellung, wie das Leben gespalten sei in Bedürfnis und Bewußtsein (s. Das Problem der Würde) . Die Erfolgserlebnisse und die Zufriedenheit, die gemeinnütziges sinnvolles Handeln erzeugt, können zwar genossen werden. Daher kann Sinn schöne Augenblicke schaffen. Aber die Freude und Zufriedenheit, die mit einer Leistung für andere verbunden ist, entsteht ja nur durch die Leistung, also dadurch, daß ich bewußt den Bestrebungen meiner Bedürftigkeit widerstanden habe. In der gemeinnützigen Leistung bin ich also nicht Knecht der Natur.

Faust hatte das Selbstbild, sich von keiner Befriedigung beeinflußen zu lassen, und ist nun doch damit zufrieden, daß er für andere Menschen etwas Bedeutendes schafft. Auch wenn diese Zufriedenheit mit einem guten Werk in Fausts Selbstbild nicht vorgesehen war, ist sie in sein Selbstbild integrierbar! – Faust hat die Wette verloren, aber dennoch nicht grundsätzlich gegen sein Selbstbild verstoßen. Vermutlich meinte Goethe das, als er sagte, der Teufel habe die Wette nur halb gewonnen.

Die Absicht, die Faust mit der Wette verbindet, impliziert allerdings, daß „gemeinnützig“ sich auf die ganze Menschheit bezieht. Auf Kosten anderer Familien oder Völker den Ruhm und Reichtum der eigenen zu mehren, das ist die Ethik von Mafia-Paten und Imperialisten. Sie bleiben Knecht ihrer Biologie, denn sie wollen Stolz, Rang und Reichtum. – Das können wir bei Faust ausschließen. Doch es bleibt eine andere Unausgegorenheit in seiner Absicht:

Er will dem eigenen Leben einen ganz tollen Sinn geben ohne Rücksicht auf Verluste:  Er betreibt Piraterie, Zwangsarbeit und Deportation. So ist in Fausts Sinnstreben doch noch etwas Knechtisches, das er nicht begriffen hat: Unsere Biologie hat uns mit einem Sinntrieb ausgestattet, der uns mit Selbstzufriedenheit belohnt, wenn wir was geschaffen haben, das für alle nützlich ist.

Um bei einem so schönen Augenblick satter Selbstzufriedenheit zu verweilen will Faust Philemon und Baucis von ihrem Hügel vertreiben:

Dem Blick eröffnen weite Bahn.
Zu sehen was alles ich getan
Zu überschaun mit einem Blick
Des Menschengeistes Meisterstück,
Bethätigend, mit klugem Sinn,

Der Völker breiten Wohlgewinn.  (Verse 11245ff)

Reifer Gemeinsinn überprüft stetig, ob das eigene gemeinnützige Vorhaben anderen gemeinnützigen Zwecken in die Quere kommt oder in anderer Weise Menschen schadet. Reifer Gemeinsinn forscht nach Konflikten und ist bereit für Kompromisse, statt ein bedeutendes Werk für die Menschheit auf Kosten der Menschen zu verwirklichen.

„Unter den heroischen Gestalten, wen hast Du für den Tüchtigsten gehalten“?“ fragt Faust den weisen Chiron. Von Chirons Antwort hat Faust nicht gelernt: „Im hehren Argonautenkreise war jeder brav auf seine eigene Weise. Und nach der Kraft die ihn beseelte, konnt er genügen, wo es den andern fehlte!“

Für seine Idee, Land zu gewinnen um ein freies Volk zu gründen, hätte Faust ein Team aus verschiedenen Experten aufstellen sollen. Sein Projekt wäre dann vielleicht in seiner Lebzeit über die Planungsphase nicht hinausgekommen. Aber dafür hätte das freie Volk auch keine Leichen im Keller.

Faust hat die Reife, auf Ruhm verzichten zu können. Doch wenigstens will er sich als Held fühlen. Die Reife, auf die Selbstbefriedigung verzichten zu können, die mit dem Schaffen eines bedeutenden Werkes für die Menschheit verbunden ist, hat er noch nicht.

Deshalb hat der Teufel die Wette nur halb verloren.

 

(2) Warum Faust die Wette halb gewonnen hat

Auf dem Osterspaziergang blickt Faust mit Sympathie auf die andern Leute, die sich gleich ihm in der ersten Frühlingsmilde tummeln, und kommentiert begeistert: „Zufrieden jauchzet groß und klein: Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein“.

Der Germanist Weitin sieht darin „den Schritt zur Menschenwürde“ vollzogen, die „auf keine Rangordnung mehr zielt, sondern … für jeden aus der Menge möglich ist“ (Weitin 2013, S.45). – „‚Schau auf die Menschheit‘ lautet die Aufforderung“ (87). – „Hier ist keine Spur mehr von den alten Ehrvorstellungen der Schichten-Gesellschaft, sondern jener universelle Würdebegriff angesprochen, den erst die … moderne Gesellschaft als Allgemeines postulieren kann“ (85).

Weitin meint: So wie im Alten Testament, bestehe auch bei Faust ein Zusammenhang zwischen Landnahme und Gesetzgebung: Mit der Landnahme (freiem Grund) sei Faust „strukturell in der Lage, Normen zu erzeugen“ (ein freies Volk) (62).

Mit dem „freien Volk“ setze Faust die Norm der universellen Menschenwürde – und zwar nicht als ein quasi religiöses Tabu („Unantastbarkeit“) und auch nicht als „bloßes Säkularisat einer ursprünglich christlichen Substanz“. Sondern als ein selbstgesetzter Wert, dessen Geltung wir nicht mehr ableiten müssen aus unhinterfragbaren religiösen Vorstellungen, sondern den wir „modernen“ Menschen selbst begründen und verteidigen müssen (S. 25 u. 31.)

Und ohne Rückgriff auf Religion ist diese Begründung und Verteidigung von Werten und Normen nie endgültig, steht immer in Frage, muß immer neu geleistet werden (S. 25, S. 87). In diesem Sinne versteht Weitin Fausts Ausruf: „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß.“

Ohne Papa und Mama Gott sind Freiheit und Würde stets gefährdet, von bösen Brüdern und Schwestern manipuliert oder weggenommen zu werden. Deshalb gibt es für uns ein Verweilen des schönen Augenblicks nur um den Preis des Knechtschaftsrisikos. – Wer kein Knecht sein will, ruht sich nicht aus auf dem einmal Errungenen.

In diesem Sinne spricht sich Faust trotz des Genusses seiner Vision doch grundsätzlich gegen das Verweilen des Schönen Augenblicks aus.

Literatur: Thomas Weitin, 2013: Freier Grund. Die Würde des Menschen nach Goethes Faust. Konstanz University Press, Paderborn

Weiterlesen: „Das ewig Weibliche zieht uns hinan“ : Goethes Formel für soziale Intelligenz (Über Fausts Erlösung im Epilog)

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