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Neuartige Musikdokumentation

Neue Konzepte der Vermittlung klassischer Musik in Dokumentarfilmen

Die großen Kunstwerke der Musik sind zu einem Nischendasein verurteilt. Es ist, als ob die meisten Menschen noch nie eine Kathedrale betreten hätten!

Sich Musikkunstwerke zu erschließen ist nicht leicht. Wissenschaftlich ist es noch nicht untersucht, aber offenbar braucht das Gehirn eine gewisse Zeit, bis es in einer Musik, mit der wir nicht aufgewachsen sind, Muster und Ordnungen erkennt. Selbst Musik, wie die von Corelli, die mir einfach und eingängig erscheint – und wunderbar schwelgerisch! – selbst diese Musik ist für viele intelligente und feinfühlige Leute, denen ich sie zum Einstieg in die klassische Musik empfehle, unmittelbar völlig nichtssagend.

Herkömmlicherweise werden in Dokumentarfilmen zur Vermittlung von Musik Anekdoten aus dem Leben von Komponisten inszeniert und ihre Musik dabei als Filmmusik unterlegt. Nicht die Musik wird interessant gemacht, sondern ihr Schöpfer.

Das vermittelt indirekt die Botschaft, daß die Musik nebensächlich ist. Die Musik selbst wird entwertet und ihr künstlich ein äußerlicher, nicht-musikalischer Mehrwert wieder zugefügt: Wie erstaunlich das ist, daß da ein tauber Mann oder ein achtjähriger Junge eine Sinfonie komponiert! Man will die Leute für den Menschen interessieren und hofft, daß sie dann neugierig genug auf das Werk werden, um sich so oft damit zu beschäftigen, daß sie alleine einen Zugang dazu zu finden.

Ein Folgeproblem könnte in Vernutzungseffekten bestehen: Werden die gleichen Themen aus klassischen Kunstwerken immer wieder Filmen unterlegt, besteht die Gefahr, daß die Musik mit Assoziationen „verschmutzt“ wird: Hört man eine Sinfonie, drängen sich immer wieder Bilder aus Filmen auf. – (Allerdings meinte der Dokumentarfilmer Hannes Schalle, der mir dankenswerterweise auf meine Fragen antwortete, seit dreißig Jahren sei ich der erste, der sich darüber beschwere, daß er in seinen Filmen über klassische Musik Bilder und Musik dramaturgisch verknüpft. – Also vielleicht spinne ich mit meiner These von der Vernutzung.)

Wie kann auf attraktive Weise eingängig vorstellbar gemacht werden, wie toll die hohe musikalische Kunst ist? – Attraktiv sind Bilder und Geschichten; und Unbekanntes wird vorstellbar durch Vergleich mit Bekanntem.

Kreativ wäre es, Gleichnisse zu entwickeln, die die Vielschichtigkeit und den Reichtum der Musik veranschaulichen – ohne auch nur einen Ton dieser Musik selbst darbieten zu müssen oder auch nur eine Anekdote aus dem Leben ihrer Schöpfer und Schöpferinnen. – Wie bringen wir Kindern das rechnen bei? Mit Geschichten: „Hans, Paul und Grete finden 6 Äpfel. Wieviel Äpfel kriegt jeder?“

Es könnten mit Hilfe von künstlicher Intelligenz optische „Profile“ entstehen, mit denen z.B. Vergleiche zwischen Beethoven und Beatels möglich wären: „Seht her: so sieht das 3-D-Profil einer Sinfonie aus, und so das eines Songs!“ – Diese Profile sollen nicht bewerten, sondern die grundlegenden Unterschiede sichtbar machen und Neugier anstacheln. (Manchmal sitzen wir lieber im Garten, ein andermal durchstreifen wir lieber den Wald, erklettern einen Berg oder erforschen eine Höhle. Es gibt da nicht sinnvoll was zu bewerten, jedes ist zu seiner Zeit unübertreffbar.)

Eine andere Möglichkeit wäre, zu veranschaulichen, was im Gehirn vor sich geht bei verschiedenen „Musiken“.

Oder: Es könnten Wege gefunden werden, das Phänomen der Form zu veranschaulichen: was der Unterschied ist, ob ich 20 Minuten improvisiere oder mit den gleichen musikalischen Ideen im gleichen Stil eine Komposition ausarbeite?

Die Vorstellung eines Werkes wäre stilistisch statt anekdotisch. Mit einfallsreichen optischen „Übersetzungen“ könnte „sichtbar“ gemacht werden, was Beethovens Musik von der Mozarts unterscheidet. Beethovens Verfahren könnte aus seinen Skizzenbüchern anschaulich und nachvollziehbar rekonstruiert werden, ohne daß jemand dazu Noten lesen können muß. – Oder es könnte sichtbar gemacht werden, was die Klassik anders macht, als der Barock.

Eine derartige Vermittlung von Musik bedeutet immer auch eine Erforschung der Musik. Das ist aufwändig. Aber sind die großen Schätze der Menschheit das nicht wert? – Es ist doch erklärungsbedürftig, warum es nicht längst solche Ansätze gibt! – Für alles mögliche wird KI eingesetzt. Warum nicht dafür, uns z.B. Vorschläge für die Veranschaulichung der Komplexität klassischer Musik zu machen?

Das sind ad hoc Ideen. Ob sie „funktionieren“ muß sich zeigen. Ohne Forschungs- Experimentier- und Entwicklungszeit wird es nicht möglich sein, herauszufinden, was überhaupt geht und was davon gut. Es wird nicht reichen, einfach mal was auszuprobieren, um dann besserwisserisch festzustellen, daß es nichts bringt.

Weiterlesen: Gegen die Diskriminierung klassischer Kunstwerke

Ein Beispiel, wie läppisch das Niveau der Musikdokumentation im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk ist:
https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/meisterstuecke/audio-emilie-mayer-faust-ouverture–100.html

Stephen King, „Sommer“, aus „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“

Ist es ein Unterhaltungsroman? – Wenn ja: darf sich Unterhaltung des Themas Holocaust bedienen?

Es geht um den ehemaligen Komandanten eines Vernichtungslagers der Nazis, der untergetaucht in einer amerikanischen Großstadt lebt. Da es nicht um das Grauen des Völkermords geht, finde ich nicht, daß hier der Holocaust verharmlost wird.

Wie so oft bei King gehen Gehalt und Unterhaltung eine Verbindung ein. In den meisten Romanen, die ich von ihm kenne, verbinden sie sich stark überwiegend zugunsten der Unterhaltung, so daß nach der Lektüre ein Gefühl der Hohlheit entsteht. – In diesem Roman hat King sich dagegen kurz gefaßt: etwas mehr als 200 Seiten. Und selbst der strengste Lektor würde nicht mehr als 5 % kürzen wollen. Der Hohlheitsfaktor ist deutlich geringer.

Das Gehaltvolle:

King fingiert eine Situation, in der zwei Kriminelle, die sich am liebsten gegenseitig umbringen würden, miteinander kooperieren müssen, weil sie sich gegenseitig „in der Hand haben“. Es spielt hier keine Rolle, wie gut oder unzulänglich King die Aufgabe, die er sich hier stellt, gelöst hat. Er führt ein Gedankenexperiment durch, das in jedem Fall ein genaues Studium wert ist.

Interessant ist auch, wie wenig den jungen Psychopathen sein eigener überdurchschnittlicher sportlicher und schulischer Erfolg interessiert, auf den jeder andere Heranwachsende neidisch wäre. King veranschaulicht damit, wie sehr Menschen mit stark psychopathischer Beeinträchtigung „aus der Welt“ sind: Sie sind „bedeutungsblind“, sie können mit dem, was den andern Menschen bedeutend, wertvoll und sinnvoll ist, nichts anfangen. Sie sind in ihrer eigenen Welt isoliert.

Faktencheck:

Ist es wirklich möglich, daß Menschen mit einer schwer ausgeprägten Psychopathie aus ganz normalen Elternhäusern kommen? – Das sollte recherchiert werden. Ich denke, das ist so nicht möglich. Ich schätze, schwere Ausprägungen von Psychopathie, wie hier geschildert, entstehen nur durch Zusammenwirken von Anlage und Umwelt – also wenn ein Kind mit einer Anlage zu Psychopathie in einem traumatisierenden oder sonstwie schwer pathogenen Elternhaus aufwächst.

Wieso ist dieser Faktencheck hier wichtig? Weil King hier offenbar einen Horror-Effekt erzielen will durch Verunsicherung: Kann soetwas bei jedem Menschen überall und jederzeit sich entwickeln? Wie sicher können wir uns noch sein? – Wenn fingierte Fakten so konstitutiv sind für die Aussage eines fiktiven Textes, dann ist ein Faktencheck notwendig.

Das Genrehafte:

Es ist für mich nicht nachvollziehbar, wieso der ehemalige Massenmordfunktionär in hohem Alter noch beginnt, eigenhändig Morde zu begehen. Meines Erachtens biegt King hier psychologisch was zurecht. Mich überzeugen die Motive nicht. Es wirkt, als ob er noch ein wenig mehr Horror in die Geschichte bringen wollte, um seine Fäns nicht zu enttäuschen.

Die Massenmörder der Nazis waren keine Psychopathen. Ich schätze, das wußte King auch: die Studie Hannah Arendts („Die Banalität des Bösen“) war 1981 bereits ein „Klassiker“. Merles „Der Tod ist mein Beruf„, war bereits 1957 erschienen.

Statt zu fingieren, daß auch Söhne ganz normaler Eltern schwer psychopathisch werden können, hätte King weit mehr Verunsicherung dadurch erzeugen können, daß es nicht erst der seltenen Psychopathen bedarf, damit der Horror in die Welt kommt…

Die Geschichte gilt als „Novelle“ oder „Kurzroman“ und wurde von King mit drei anderen Kurzromanen zusammengefaßt zu einem Sammelband: „Different Seasons“, erschienen 1982 ( deutsch.: „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“, 1992).

Stephen King, Feuerkind

King buchstabiert in diesem Roman aus, was es bedeutet, wenn der Zweck die Mittel heiligt: Es geht um die Folgen skrupelloser Experimente mit Menschen im Dienste der nationalen Sicherheit.

In der Figur des Chefs der Geheimdienstorganisation bietet uns King eine kleine Phänomenologie der Banalität des Bösen, eine Phänomenologie von Schreibtischtätern. – Allerdings hat Kings Chef eine gewisse Reife: Er hat dann doch Skrupel bei den menschenverachtenden Sicherheitsmaßnahmen, gibt aber schließlich den Versuch auf, das, was er tut, noch ernsthaft ethisch vor sich rechtfertigen zu wollen.

Die Geschichte kann außerdem gelesen werden als Studie darüber, was es für Kinder bedeutet, wenn sie wegen ihrer Fähigkeiten von den Erwachsenen verplant werden und nicht unbeschwert Kind sein dürfen.

Erbauend ist Kings Schilderung eines in seiner Reife und Schlichtheit vorbildhaften Charakters, der versucht, Vater und Tochter zu helfen.

Beklemmend ist der zweite Teil des Buches: Das Mädchen wird vom Vater isoliert, und jemand versucht planmäßig und gezielt ihr Vertrauen zu gewinnen, um sie für seine eigenen persönlichen Experimente zu benutzen und schließlich zu töten. Das ist der eigentliche Horror des Buches.

Das was King hier darstellt, hätte er allerdings noch besser in seiner ganzen Perfidität weiterentwickeln können. Er geht zu schnell dazu über, daß das Mädchen seine Zweifel überwindet, seine Zweifel, ob sie mehr dem Vater vertrauen soll, bei dem sie nicht weiß, ob er durch Folter oder Gehirnwäsche verändert wurde, oder dem Wärter, der ihr vormacht, ein heimlicher Rebell zu sein. Hier buchstabiert King einen wahrhaft horrenden Konflikt nicht aus.

Wie in allen seinen Geschichten scheut sich King auch in diesem Roman nicht, allem was Spannung erzeugt, soviel Raum zu geben, wie seine Fabulierlust möchte. Das macht auch diesen Roman zu lang, zumindest, wenn man es von einem künstlerischen Standpunkt aus betrachtet: Es gibt Szenen und Charakterisierungen, die sich im Nachhinein als unnötig herausstellen oder als zu ausführlich . – Im Nachhinein! King schreibt so packend, daß man das beim Lesen selbst nicht merkt. Bloß hinterher bleibt ein Gefühl von Hohlheit zurück, von viel taubem Gestein um ein paar Kristalle herum.

King ist wie jemand, mit dem man spazieren geht, und der an jeder Ecke stehenbleibt um umständlich zu fotographieren.

Auch das „show-down“ ist in dieser Art altbekannt. – Das Ende ist nicht das einzig Mögliche. Man fragt sich: Wieso machen die Protagonisten das nicht besser, sie hätten doch bessere Lösungen zur Verfügung gehabt? Hier scheint King etwas hinbiegen zu müssen, um seinen Plan nicht ändern zu brauchen.

Natürlich darf eine Geschichte erzählen, daß den Helden im Eifer des Gefechts nur suboptimale Lösungen gelingen. Aber dann sollte die Geschichte – wie eine Novelle – davon handeln, wie die Helden mit den Folgen klarkommen. – Wenn die Frage entsteht: „Welchen Sinn verbindet der Autor damit, einen schmerzhaften Ausgang zu wählen, wenn die Geschichte einen schmerzfreien genauso gut möglich macht?“, dann wirkt das Horrorhafte gewollt. Man fühlt die Absicht und man ist verstimmt. – Kings Geschichten haftet öfter etwas davon an. – Doch seine Qualität zeigt sich darin, daß sie dennoch lesenswert sind.

Allerdings: Ich muß zugeben: die letzten hundert Seiten habe ich in einer halben Stunde quer gelesen. Und wenn ich jetzt Stichproben mache, bereue ich das nicht, im Gegenteil.

Das Buch könnte mühelos um ein Drittel gekürzt werden. Und mit ein wenig Mühe auch auf die Hälfte. Künstlerisch würde der Roman dadurch um ein Vielfaches gewinnen. Für Leute die Lesevergnügen suchen, würde er dadurch freilich  viel verlieren.

King selbst scheint es nicht darum zu gehen, ein vollendetes Kunstwerk zu schaffen, sondern seiner Fabulierlust zu frönen. Und er weiß, daß er dabei auf seine Begabung vertrauen kann, die Begabung, jederzeit genügend künstlerischen Gehalt mit herauf zu schürfen, und mehr als nur pures Lesevergnügen zu bieten.

Weiterlesen: Die Kunst von Steven King

Link zu Wikipedias Artikel über das Buch

Die Kunst von Stephen King

King hat eine beneidenswerte Auffassungsgabe für Menschen. Ein Beispiel: Eine junge Frau die zwanghaft ist, ängstlich und von anderen Menschen abhängig, beschreibt er auf eine so lebensechte Weise, wie ich es als Therapeut, der dieses Störungsbild gut kennt, unmittelbar nicht könnte. Außerdem fehlt mir die „Antizipationsfähigkeit“, wie Goethe das nannte, um mir gleich die ganze Familie vorstellen zu können, die Art und Weise, wie die Beeinträchtigungen der Frau und die Reaktionen der Familienmitglieder darauf zu problematischen Verhaltensmustern zusammengewachsen sind. – Ich hätte mindestens eine Woche mit so einer Familie zusammenleben müssen, um so eine Beschreibung hinzukriegen!

Offenbar vereint King ein nahezu filmisches Gedächtnis mit einer starken Auffassungsgabe, die ihm gestattet, aus wenigen markanten Punkten den Rest zu erschließen. Stephen King hat eine phänomenale Menschenkenntnis. Und das entschädigt.

Denn die Stärken des Autors wenden sich künstlerisch gegen ihn: Viele seiner Geschichten sind langatmig und bringen wenig Erkenntnisgewinn – auch wenn sie so gut und spannend geschrieben sind, daß es sich liest wie mit dem Rad die Alpen bergabfahren. – Und ich verdanke King viel Vorfreude: Die Aussicht, nach einem anstrengenden Arbeitstag in der U-Bahn einen neuen King-Roman zu lesen, erleichterte mir nicht selten die letzte Arbeitsstunde.

Doch nach einer King-Lektüre stellte sich oft ein Gefühl von Unzufriedenheit und Leere ein. Allerdings auch nur, weil ich meist mehr gewünscht hatte, als pures Lesevergnügen.

Einige seiner Romane und Erzählungen habe ich nicht zu Ende gelesen, es war mir zu unergiebig: „Brennen soll Salem“, „Das Bild“, „Sara“. – Bei anderen, wie „Friedhof der Kuscheltiere“ habe ich bedauert, sie zu Ende gelesen zu haben. Wieder andere, wie „Sie“ oder „Dolores“ waren toll zu lesen, doch hinterher dachte ich: „Das hat sich kaum gelohnt.“ Ähnlich ging es mir mit „Atlantis“. – Der Roman „The Cell“ ist ärgerlich und ich frage mich, ob King ihn selbst geschrieben hat. – Ärgerlich fand ich auch „Desperation“, in dem Gott und Teufel nahezu leibhaftig ihren Auftritt haben. Das muß zwangsläufig zu allen Arten von Widersprüchen führen, an denen 2000 Jahre Theologie sich vergeblich abgearbeitet haben, Widersprüche der Art: „Wenn Gott das nicht will, warum stellt er es dann nicht einfach ab?“

Doch auch in unergiebigen Romanen gibt es Abschnitte, in denen sich der Text zu höherer Kunst verdichtet, z.B. die Beschreibung der schweren unheilbaren Nervenerkrankung eines Mädchens in „Friedhof der Kuscheltiere“ (Kap. 32) , oder die Beschreibung stark rechtslastiger Männlichkeitsvorstellungen in „Das Bild“ . – In „The Stand“ gibt es eine Passage über eine junge Frau, die unehelich schwanger ist und ihre Mutter darüber informiert. Aus dem Roman als Kurzgeschichte herausgelöst könnte diese Passage in einer Sammlung der besten Kurzgeschichten der amerikanischen Literatur stehen.

Solche Passagen, die ein hohes künstlerisches Niveau haben, finden sich in vielen Romanen und Erzählungen Kings. Seine Schilderungen von Figuren, inneren Dialogen und Interaktionen  wirken auf mich oft wie kleine Wunder. Diese Schilderungen sind Kings große Begabung. Daher kann ich ihm auch verzeihen, wenn in seinen Büchern immer wieder telepathische Menschen auftauchen: Ich schätze, King muß seine Begabung in jungen Jahren ähnlich erlebt haben wie seine erstaunten telepathischen Protagonisten: als ein Erkenntnisvermögen, daß ihm einen weit größeren Zugang zur Menschenseele gestattet, als andern Menschen.

Aber Telepathie ist keine ästhetisch intelligente Metapher für Hochbegabung. Denn fast alle Werke Kings kranken an den Widersprüchen, die daraus entstehen, daß die Lesenden sich ständig die Frage stellen: „Wenn King fantasiert, daß das möglich ist – warum fantasiert er dann nicht, daß auch das möglich ist?“ – Kings Probleme und Problemlösungen sind oft willkürlich, so wie er es gerade braucht, um Spannung zu erzeugen. So muß er sich z.B. immer wieder irgendwas ausdenken, warum in dieser Situation der Held gerade nicht telepathisch ist, weil: sonst wär das Problem schnell gelöst oder gar nicht erst entstanden; wie blöd wäre das für den Roman! – Wer mit Telepathie und Telekinese fantasiert, darf nicht konsequent sein, sondern sollte über seine Einfälle möglichst nicht lange nachdenken.

King ist ästhetisch weit intelligenter als ich. Was ich ‚konsequent‘ nenne, würde er ‚zwanghaft‘ nennen. Und er hätte nicht ganz unrecht damit. Aber auch nicht ganz recht.

Eine der bedeutensten Stärken Kings sind seine Schilderungen von inneren Dialogen: Was seine Heldinnen und Helden mit sich selbst reden, um sich zu orientieren, zu beruhigen oder zu ermutigen. Dabei greifen sie nahezu pausenlos auf das zurück, was Freunde, Ex-Partner, Vorbilder, aber auch Lieblingsfeinde immer gesagt haben. – Wer viel King liest, und sich für die inneren Dialoge Zeit nimmt, kann seine eigenen inneren Dialoge – d.h. seine eigene Orientierung, Realitätsprüfung, Selbstkritik, Selbstberuhigung und Ermutigung verbessern!

Das Beste, was man bruchlos über Kings Geschichten sagen kann, ist: sie sind verspielt: Gehaltvolles, eingebettet in Spannendes und Gruseliges. – Die künstlerische Qualität ist dadurch großen Schwankungen unterworfen. Die Erzählung mit der ängstlichen Frau z.B. mündet in eine Zombiegeschichte. Alles, was da an Horror kommt, ist altbekannt und vorhersehbar. Der zweite Teil der Geschichte ist da, wo sie „phantastisch“ ist, einfach langweilig. So geht es mit vielen  Geschichten Kings.

Hinzu kommt seine Fabulierlust. In fast allen Romanen gibt es jede Menge unnötiger Komplikationen und Handlungsstränge. Das ist sein Tribut an das Genre, denn es geht meist um „Action“ und „Horror“, die inhaltlich nichts zum Plot beitragen. Ich finde das ärgerlich. Ständig muß man querlesen! 50 Seiten in 10 Minuten, das ist anstrengend, aber das kleinere Übel für Leute, die keine Zeit verschwenden wollen.

Ich schätze, King würde es selber begrüßen, wenn es neben den Originalausgaben gekürzte Ausgaben seiner besten Werke gäbe: Der ganze altbackene Gespensterscheiß wird gestrichen, oder da, wo es für das Verständnis des Rests nötig ist, so knapp wie möglich zusammengefaßt. Die meisten Romane Kings würden um drei Viertel oder mehr schrumpfen. Aber diese Abspeckkur bekäme ihnen bestens!

Das gilt jedoch nicht für die Romane „In einer kleinen Stadt“ und „Die Arena“. Die gehören mit Abstand zum Besten, was ich von King gelesen habe. „Die Arena“ ist beklemmend: ohne jedes genretypische Horrorelement horrorhafter, als alles, was ich sonst von King gelesen habe.

Allgemein ist festzustellen: Was die „phantastischen“ Elemente seiner Geschichten angeht, ist Steven King nicht sehr einfallsreich und phantasievoll. Er hält sich an die altbackenen Schauermärchenelemente: Gespenster, Hexerei, Dämonen, Zombies, Vampire und nicht sehr originelle Monster, die auffallende Ähnlichkeit mit Spinnen oder Oktopussen haben. Und alles wird zusammengekittet mit Telepathie und Telekinese.

Dadurch flachen seine Geschichten nicht selten ab: Einem atmosphärischen, lesenswerten und vielversprechendem ersten Teil folgt der eigentliche Horror, der oft eher grotesk ist (z.B. eine Stadt, die von den Geistern früh verstorbener Rock- und Bluesmusiker bewohnt wird); oder klischeehaft wenn z.B. Figuren aus dem Lovecraft-Museum ausgeliehen werden oder die übliche Zombiemasche abgezogen wird. – Auch viele minutiöse Schilderungen körperlichen Schmerzes wirken aufgesetzt, um genretypische Erwartungen zu erfüllen. – Aber wie gesagt: das Atmosphärische und das Menschliche, und natürlich das Lesevergnügen, entschädigen für die Enttäuschungen.

Die besten unheimlichen Geschichten die ich kenne sind immer noch: „Arthur Gorden Pym“ von E.A. Poe, „Die Weiden“ von Algernoon Blackwood, „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann, „Ratten im Gemäuer“ und „Ctullus Ruf“ von Lovecraft sowie „Der Horla“ (2. Fassung) von Guy de Maupassant.

 

2

Es gibt einen Unterschied zwischen der Literatur der Angst und der Literatur des Leids. In den besten Werken der Angstliteratur sind Elemente der Literatur des Leids nicht ausgeschlossen – wie z.B. bei E.A.Poe oder die erwähnte Passage aus Kings „Friedhof der Kuscheltiere“. Und Literatur des Leids – wie z.B. „Der Horla“ – kann auch ängstigen.

Doch meist ist die Horrorliteratur weit entfernt davon, eine Literatur des Leids zu sein, weil alle wissen: Hier soll jetzt gegruselt oder schockiert werden, es ist nur ein Spiel. Wir wollen uns verunsichern lassen, mit unseren Ängsten auseinandersetzen, Sensationslust stillen, aber nicht mit dem auseinandersetzen, was uns existentiell erschüttert, was beklemmend ratlos macht und am Leben zweifeln läßt.

Goethes Darstellung von Margarete im Kerker war für mich weit schockierender als alles, was ich bei King oder Lovecraft gelesen habe. Das Gleiche gilt für eine Szene in Kafkas „Der Verschollene“: die Darstellung von Mobbing durch Vorgesetzte in einer Situation, in der der Betroffene vor dem Nichts steht und buchstäblich verloren ist, wenn er die Stelle verliert.

(Zur Literatur des Leids siehe auch: Splitter, Einleitung zu einer Kurzgeschichte von D. Seefeld (auf diese Website).

 

3 Zu Verfilmungen von Werken Stephen Kings

„Shining“ von St. Kubric ist keine Verfilmung sondern ein Film, das muß man ihm zu Gute halten. – Ich halte ihn als Kunstwerk jedoch für fragwürdig wegen der Filmmusik: Was wäre der Film ohne die als Filmmusik genutzte Musik von Görgy Ligeti und Krzysztof Penderecki? Wahrscheinlich streckenweise armselig und ein krasser Gegensatz zu Jack Nickolsens grandiosen Darstellungsleistungen. Ich finde es grundsätzlich ästhetisch fragwürdig, autonome Musikkunstwerke als Filmmusik zu benutzen. Dieser Film ist daher kein eigenständiges Kunstwerk, sondern eines, das sich auf andere Kunstwerke stützt, es braucht die Musik wie ein schwaches Rückgrat ein Korsett.

Die Verfilmung von „Shining“, die King veranlaßte, steht im Schatten von Kubrics Film, wirkte auf mich aber auf ihre Weise ebenfalls atmosphärisch und erlebnisreich.

Der Film „Der Nebel„, von Frank Darabont nach Kings gleichnamiger Erzählung, ist nach meiner Einschätzung einer der wenigen Fälle, in denen die Verfilmung besser ist, als die Vorlage. Der Regisseur gab dem bei King nur angedeuteten religiösen Fanatismus mehr Raum und buchstabierte ihn aus. Das fand ich am horrorhaftesten. Und es macht ihn zu einer anschaulichen lebensechten Studie über den neurotischen religiösen Fanatismus, der das weiße Amerika von Beginn maßgeblich geprägt hat und sozusagen in seine Fundamente eingeschrieben ist.

Zum Überblick über die Erzählungen unserer „Netzschrifteninitiative“ geht es hier

Weitere Artikel auf dieser Website über Werke von Stephen King:

Feuerkind
Sommer
The Stand, das letzte Gefecht
Das Institut
Duddits

Arte bildet nicht, Arte füllt ab

Stichworte zur Ästhetik populärwissenschaftlicher Fernsehdokumentation

Wie kann man Astro- und Teilchenphysik ins Fernsehen bringen? Die Ansätze in den Sendungen am Thementag des 11.8.18 waren durchaus gut. Und daß viele Menschen davon fasziniert und inspiriert gewesen sein mögen, streite ich nicht ab. Doch wenn man das Dargebotene daran mißt, was möglich wäre, kann man nur verärgert sein.

Gut war, daß die Dokumentationen ansatzweise unterschieden zwischen Phänomenen und Interpretationen: So wurde z.B. gezeigt, welche Beobachtungen die Idee nahelegten, daß es eine „Dunkle Materie“ geben müsse. Ansatzweise wurde dadurch verstehbar, daß die „Dunkle Materie“ den Status eines wissenschaftlichen Konstrukts hat statt den einer Tatsache. Aber „ansatzweise unterscheiden“ reicht nicht, zumal wenn es beiläufig und unsystematisch geschieht. Dann verwirrt es bloß. Statt Systematik herrschte Entertainment: Die immer wieder eingestreuten „O-Töne“ der Wissenschaftler waren inhaltlich redundant und sprachlich wenig hilfreich. Allzu offensichtlich ging es dabei um den Unterhaltungswert: um Abwechslung und „Menschelei“. –

Visuell reihte sich eine bemühte Verlegenheitslösung an die andere, wenn z.B. zu einem Text über dunkle Materie ein Vogelschwarm gezeigt wird. – Manche dieser visuellen Ideen haben durchaus künstlerische Qualität, man weiß bloß nicht, was da jetzt noch die Silhouette des Wissenschaftlers soll, der zwischendurch immer wieder seine überflüssigen O-Töne absondert, etwa so wie ein Hund seine Urinmarken. – O-Töne sind Text! Eine Dokumentation sollte sich auszeichnen durch guten, gut durchgearbeiteten Text. Wenn sich da ein O-Ton einfügt, gut. Wenn nicht, ist der O-Ton nichts als Spielerei, die die Aufmerksamkeit zerstreut.

Am Deplaziertesten war die Musik. Sie war nicht schlecht. Aber das ist ja gerade das Problem! Sie war zu informativ! Ich mußte ihr nachhören und mir entging Text. – „Nicht alle sind so für Musik sensibilisiert, daß sie ihr nachhören müssen!“ wird sich der Redakteur über diese Kritik brüskieren. Aber er hat Unrecht: für Musik sensibilisierte Menschen sind hier „Detektoren“ für zu hohen musikalischen Informationsgehalt. Der stört Konzentration und Erleben auch bei jenen Menschen, bei denen er nicht zur Fixierung führt.

Auch im Zusammenspiel von Bildern und Musik zeigten sich künstlerische Ansätze – vielleicht etwas kitschig, aber egal: das darf ruhig schon mal sein und auch im Kitsch liegt eine Wahrheit, ohne Wahrheit schafft es kein Kitsch, kitschig zu sein. Das Problem ist bloß: die Redakteure sollten sich entscheiden: entweder Text oder Kunst. Eine Überfrachtung durch unausgegorenes Tutti-Frutti führt zu nichts.

Den Rotstift ansetzen! Sehr gelungen war die Veranschaulichung, wie aus der rhythmischen Verdunklung von Sternenlicht auf die Planeten geschlossen werden kann, die um den Stern kreisen. – Aber daß der gleiche Sachverhalt vorher nochmal am Modell Motte-Scheinwerfer vorgeführt wurde war nicht nur unnötig sondern auch noch hinkend. Das war schlechtes Handwerk. Ein guter Handwerker muß bereit sein, eine ganze Sequenz zu streichen, wenn sie im Ganzen unnötig ist, egal wieviel Einfall und Mühe darin steckt.

Eine populärwissenschaftliche Dokumentation muß erstens wissen, was sie will und was sie nicht will, sonst über- und unterfrachtet sie gleichzeitig. Und sie muß zweitens drei Erfordernisse in Einklang bringen: die Erfordernisse der Sache, der Verständlichkeit und der Faßlichkeit. („Faßlichkeit“ ist ein Begriff für „Informationslogik“, für wahrnehmungs- und auffassungspsychologische Ökonomie sowie sequenziellen und synchronen Zusammenhang: Genauso, wie die Teile eines Textes sinnvoll sequenziell aufeinander bezogen sein müssen, müssen es auch die „Kontrapunkte“ der verschiedenen Informationskanäle sein: Bild, Text und Musik. Auch hier gilt Schönbergs Wort: Kunst komme nicht von Können, sondern von Müssen.)

Die Dokumentationen kamen auf keine anderen Ideen, auf die auch Lieschen Müller kommen würde („Vogelschwarm“ für „Dunkele Materie“). Freilich sollte man Lieschen Müller  nicht unterschätzen. Aber was auch immer sie kann, sie hat ihr Können nicht systematisch reflektiert und trainiert. Das ist aber von Redakteuren des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks zu erwarten.

Die Dokumentationen sind ästhetisch dilletantisch. Und als dilletantisch muß auch die Auffassung gelten, daß man für quotenrelevante Attraktivität ästhetische Kompromisse in diesem Ausmaß und dieser Art machen müsse.

(Titel der besprochenen Dokumentationen: „Die fantastische Geburt der Sterne“. – „Das Rätsel der Dunkelen Materie“.  – „Aliens: Sind wir allein im Weltraum?“ – Gesendet auf Arte am 11.8.18.)

 

Nachsatz: Primitive Attraktionstechnologie – zur Dokumentationsästhetik der „Öffentlich-Rechtlichen“ allgemein

Ständig das Getute und Gewute der Musik! Man wird ganz rammdösig! Etwas in den Zuschauern soll betäubt werden, das ist offensichtlich. Anders funktionieren die dokumentarischen „Formate“ wohl nicht.

Ob Moorleiche oder Kathedrale: überall steht der Krimi Pate. Es wird nicht von den Gegenständen erzählt, sondern bestenfalls lernt man etwas von der Erkundung der Gegenstände. So ging es in einer Dokumentation über einen Künstler nicht um sein Werk sondern um die detektivischen Recherchen zu einer geheimen Geliebten. – Und statt einfach Wissen darzubieten oder zu erklären oder Zusammenhänge zu stiften, werden Rätselfragen gedrechselt, um im Zuschauer ein Spannungsgefühl zu erzeugen: „Werden die Wissenschaftler es schaffen, dieses Rätsel zu lösen?“ Bei dieser Infantilisierung lernt man selten etwas über das, worum es eigentlich gehen sollte. Interessanter als die Frage, was die moderne Gerichtsmedizin an antiken Moorleichen erkennen kann, wäre doch, darzustellen, wie die Menschen damals ihr Überleben der Natur  abringen mußten und warum Menschen unter solchen Bedingungen glauben, mit dem Opfern ihres Häuptlings besseres Wetter machen zu können. – Und weit interessanter als die Frage, wie heute die Abstände von Kathedralenpfeilern in 30 m Höhe gemessen werden, wäre die Frage, wie diese Kathedralen im 12. Jahrhundert überhaupt möglich waren.

Der Dritte Grundzug der Banalität ist die Reizüberflutung: Ständig werden die Zuschauer mit neuen Bildern beschossen. Die Strategie ist so fadenscheinig – getrieben von der Angst, die Zuschauer könnten wegzappen, wenn man eine Einstellung nur einen Sekundenbruchteil zu lang werden läßt! – Was herauskommt ist närrisch, z.B. in einem Tierfilm: Plötzlich wird ein Adler hoch über der Landschaft gezeigt, dann genauso plötzlich ein anderer und man denkt, ach, was gibt es in dieser Landschaft viele riesige Adlerarten – d.h. man kann das gar nicht zu Ende denken, denn schon sieht man ein völlig anderes Tier und bemerkt nachträglich, nicht nur, daß bereits der zweite Riesenvogel etwas anderes als ein Adler war, sondern auch, daß er in einer ganz anderen Landschaft flog, am anderen Ende der Welt; das Bindeglied zwischen den Bilder war offenbar einzig die Länge der Flügelspannweite. – Die Krone der Narretei war eine filmische Dokumentation über Tierdokumentationsfilmer. Über das Filmen von Tieren erfuhr man nicht viel mehr, als daß man bei schlechtem Wetter lange warten muß, bis das Licht stimmt, und daß die Ausrüstung sehr sehr schwer ist. Dafür sah man schleppende Menschen, blitzlichthaft einmal im Fluß waten, einmal in hohem Schnee, einmal am Berg usw, usw, und dazwischen immer wieder genauso blitzlichhaft eingeworfen ein Sammelsurium von Tieraufnahmen, mal eine Giraffe, mal ein Eisbär, mal eine Walfluke, mal dies, mal jenes.

Daß es sich bei diesen Dokumentationen oft um Produktionen französischer oder englischer Öffentlich-Rechtlicher Rundfunkanstalten handelt, macht es nur noch schlimmer. Es läßt vermuten, daß sich auch dort die Profis nicht gegen die Funktionäre durchsetzen konnten. – Und es entlastet ARD und ZDF nicht: Wenn ein Cafe langweiligen Kuchen auftischt, kann es sich ja auch nicht damit rausreden, es habe ihn nicht selbst gebacken.

Gemessen an dem, was wir heute machen könnten, gemessen an dem, was an Möglichem den Zuschauern vorenthalten wird, sind diese Dokumentationen Betrug am Publikum.

Fack ju Göhte – wo der Film recht hat, hat er recht

Inhalt:

Jugendschutz im Unterricht
Irrungen und Wirrungen der Faust-Interpretation
Nachsatz zum Film Fackju Göhte

(1) Jugendschutz im Unterricht

1978 übersandte ein böser Schüler – heute würde man sagen: ein Whistleblower – dem Dichter H.M.Enzensberger die Fotokopie einer Deutschklausur, in der es um die Interpretation eines seiner Gedichte ging. Enzensberger hat uns die Kommentare des Lehrers erhalten: „Sachlich falsch!“ – „Das ist viel zu eng und verschiebt die Thematik“. – „Davon steht nichts im Text.“ – „Das ist so nicht richtig“ – „Die 6. Strophe wird völlig außer acht gelassen.“ – „Das kann so nicht dem Text entnommen werden“ – „Die Darstellung wird dem Gedicht in keiner Weise gerecht.“- „Mangelhaft“.

Angesichts dieses „corpus delicti“ schreibt Enzensberger über die Gilde der Deutschlehrer (den „Lehrkörper“): „Der Lehrkörper, der in diesen Zeugnissen in Erscheinung tritt, ist keineswegs homogen. Seine Methoden reichen von der subtilen Einschüchterung bis zur offenen Brutalität, seine Motivationen vom reinsten Wohlwollen bis zum schieren Sadismus. All dieser Nuancen ungeachtet macht jener Lehrkörper doch im ganzen den Eindruck einer kriminellen Vereinigung, die sich mit unsittlichen Handlungen an Abhängigen und Minderjährigen vergeht, wobei es gelegentlich – dabei denke ich vor allem an die Randbemerkungen aus Brühl – zu Fällen von offensichtlicher Kindesmißhandlung kommen kann. Als Tatwaffe dient jedesmal ein Gegenstand, dessen an und für sich harmlose Natur ich bereits dargelegt habe: das Gedicht.“ – Soweit das Zitat.

In der Ausbildung werden die Lehrer nicht angeleitet, die Heranwachsenden für sprachliche Kunstwerke zu interessieren, sondern sie mit fragwürdigen Interpretationsaufgaben zu nerven, noch bevor überhaupt ein Interesse für das Kunstwerk geweckt wurde. – Stattdessen wäre es doch spannend, erst mal zu fragen, was an dem Kunstwerk unmittelbar so unzugänglich ist, daß die Schüler sich nicht von selber für sowas Tolles interessieren. Und um die Heranwachsenden dabei zu unterstützen sich das Kunstwerk zu erschließen, könnte auf die gleiche Art und Weise mit Sprache oder Musik herumgespielt werden, wie es die Menschen machten, die diese Kunstformen mal entwickelt haben.

Ich halte die Frage für interessant, warum das in der Schule keinen Platz hat: den sichersten, motivierensten und von den Musen mit dem größten Wohlgefallen betrachteten Weg zu beschreiten, der gleichzeitig wenig Anlässe für Kinderabwertung bietet. – Ich schätze, an den Lehrern liegt es nicht, daß es das nicht gibt, sondern an den Oberlehrern, die die Curricula festschreiben.

Alle gute Kunst enthält Spontaneität und Spiel, weiterentwickelt durch „Können“ und „Müssen“, durch Handwerk und Reflexion. – So etwas wie einen rudimentären „walking bass“ könnte man mit jeder Schulklasse hinkriegen, mit viel Spaß dabei. Und aufgrund der strukturellen Ähnlichkeit von „walking bass“ und Generalbass hätte man damit eine Eintrittskarte in zwei völlig verschiedene Welten. (Da würde sich sogar noch der Biologielehrer freuen, weil es veranschaulicht, wie Evolution auf völlig verschiedenen Wegen zu gleichen Resultaten gelangen kann.) – Und Rap ist poetry slam, und poetry ist poetry, ob Rap oder „Faust“… – Ich frage mich überhaupt, wie Lehrer darauf gekommen sind, Gedichte als Gedanken zu behandeln statt als Sprachspiele und Erlebnisse.

Möglicherweise eine der anschaulichsten „Engführungen“ der menschlichen Vermögen, die für künstlerisches Schaffen erfordert sind, ist Bachs 4. Kanon aus der Kunst der Fuge: Es ist ein Umkehr-Proportionskanon im doppelten Kontrapunkt – aber das hört man ihm nicht an, er ist alles andere als „akademisch“, sondern Konstruktion und Spontaneität, Sinn und Form gehen eine denkbar virtuose Verbindung ein.

(„Umkehr-Proportionskanon im doppelten Kontrapunkt“: das ist eine Melodie, die sich mit sich selbst begleitet, und zwar in dem sie in der Begleitung langsamer oder schneller gespielt wird sowie „umgekehrt“, d.h.: wo sie „nach oben geht“ geht sie in der Begleitung „nach unten“. Und als wär das noch nicht schwer genug, wird im sie zweiten Teil mit getauschten Stimmen wiederholt: der Diskant wird zum Baß und der Baß zum Diskant. Das erfordert eine weitere Rücksicht, weil Ober- und Unterstimme unterschiedliche „harmonische“ Funktionen haben. Wird das nicht aufeinander abgestimmt, entstehen unlogische Mißklänge.)

 

(2) Irrungen und Wirrungen der Faust-Interpretation

Eine unfreiwillige Ironie der Oberlehrer besteht darin, daß ihre eigenen Interpretationen mit viel gelehrtem Tamtam und nahezu kriminalistischem Scharfsinn an Irrigkeit, Abwegigkeit, ja Abstrusität oft nichts zu wünschen übrig lassen. Das beste Beispiel dafür ist Goethes Faust, der anderthalb Jahrhunderte von der professionellen Germanistenzunft mißverstanden wurde: Faust sollte als Musterbeispiel des Menschen gelten und es wurde aller Scharfsinn aufgeboten um an dieser Deutung gegen das geschriebene Wort festhalten zu können. Nach dem Nationalsozialismus drehte sich der Wind und nun überboten sich alle darin, in Faust den „Unfaustischen“ zu sehen.

Wer sich gelehrsam mit der Wissenschaftsgeschichte der Renaissance beschäftigt und Goethes Recherchen rekonstruiert, der könnte auf die Idee kommen, Goethe habe in Faust eine Satire auf einen Wissenschaftler schreiben wollen: einer, der seine Experimente nicht richtig vorzubereiten versteht, der den Geist des Elements Erde dilletantisch mit dem Erdgeist verwechselt, (dem Geist, der alle Elemente erst schafft); einer der aus Hilflosigkeit in die Esoterik der überwundenen Pseudowissenschaften flüchtet („Magie“), der die Professionalität der neuen Generation (Wagner) für kleinkariert hält, weil sie die Träume vom Wissen-Was-die-Welt-Zusammenhält aufgegeben hat und sich nur noch ans Handfeste hält; und weil Faust schließlich den Teufel nicht in seiner wahren Gestalt zu beschwören vermag, sondern die Gestalt, in der Mephisto sich ihm zeigt, für die Wahrheit des Teufels hält, und ihn in seiner ganzen finsteren Macht verkennt.

Aber was würde uns so eine Interpretation vermitteln? Daß das Drama nicht des Schauens wert wäre. – Wen interessiert das Schicksal eines närrischen Dilletanten, der nicht an der Unzureichendheit der menschlichen Vermögen sondern an der Verkennung seines Dilletantismus scheitert? Wenn es Goethe darum gegangen wäre, die Wunderlichkeit eines wunderlichen Menschen zu zeigen: was hätte er dann bewiesen?

Und sollte Goethe wirklich beabsichtigt haben, daß man seine Texte nur dann richtig verstehen könnte, wenn man genau dieselben Bücher gelesen hat, wie er? Das ist vielleicht bei Möchte-Gern-Genies der Fall – Goethe hatte es nicht nötig, mit Hilfe von Chiffrierverfahren seinen Texten den Anschein von „Tiefe“, Hintergründigkeit und Bedeutsamkeit zu geben.

Von der Struktur her zeigt uns Goethes Text Folgendes: Ein Mensch ist in seiner Hilflosigkeit und Enttäuschung bereit, sich auf geächtete Mittel und Methoden einzulassen. – Dieses Thema würde nicht sinnvoll dadurch vertieft, daß hier die Verzweiflung eines Dilletanten gezeigt wird, der verzweifelt, weil er in seiner Ungeduld und Unwissenheit keinen professionellen Begriff von der Beherrschung seines Handwerks hat, es deshalb nicht beherrscht, und zu früh aufgibt.

 

Nachsatz zum Film „Fack ju Göhte“

Manche Jugendliche – vor allem solche, die es schon als Kind besonders schwer hatten – haben keinen Sinn dafür, sich was ganz Tolles zu erschließen, es sei denn eine Droge. Ein Kick durch eine Droge scheint ihnen „cooler“, als ein Kick durch ein Gedicht. Das ist ungefähr so, wie es cooler zu finden, den ganzen Urlaub vor der Glotze zu hängen, als mal auf einen Berg zu steigen.

Es fällt auf, daß sich manche Heranwachsenden kaum mit etwas anderem beschäftigen, als mit ihrer Stellung in der Klique und ihren sexuellen Chancen. (Und haben sie hier wenig Erfolg driften sie ab in Ballerspiele oder Drogen.)

Es ist unfair, sich über das Primitive und allzu Offensichtliche daran lustig zu machen. Es liegt nicht an ihrer Intelligenz. Sie waren aufgrund unverschuldeter Beziehungsbedingungen immer darauf fixiert, ihre Selbstwert-, Integrations- und Statusbedürfnisse zu befriedigen. Das ließ ihnen nie eine Chance, andere Interessen und Ziele zu entwickeln. Daß sie ihre Intelligenz und Tüchtigkeit auch weit intelligenter nutzen könnten, hat ihnen nie jemand gezeigt, sie haben davon nicht die geringste Vorstellung, sie sind völlig ahnungslos. – Eine unkritische Wertschätzung ihrer Versuche, unter ihren widrigen Umständen klar zu kommen, tut ihnen genau so unrecht, wie Überheblichkeit. Filme wie „Fackju Göhte“ schwanken zwischen beidem…

Überheblichkeit beruht auf Illusion. Wir sind zu leicht eingenommen von dem, was wir sind, und blind für die Zufälle, die uns ermöglicht haben, so zu werden. Wir neigen dazu, uns die Geschenke des Zufalls und was daraus ohne großes Zutun erwächst, als Verdienst anzurechnen, wie ein Bauer, der einen Mähdrescher in der Lotterie gewinnt, und dann auf den Nachbarn mit der Sense herabsieht.

Selbst für Fleiß und Tüchtigkeit sind wir unterschiedlich begabt und begünstigt. Ein Mensch z.B., dessen Gehirn genetisch bedingt weniger freigiebig mit Dopamin ist, hat es einfach schwerer, etwas zu tun, wozu er unmittelbar keine Lust hat. – Und Gehirne, die unter Umständen aufwachsen, die nicht sehr ermutigend sind, haben weniger Gelegenheit die Dopaminproduktion zu trainieren…

Hat jemand eine besondere Begabung, kann er auch unter den entmutigensten Umständen mit seiner Begabung ermutigende Erlebnisse bewirken. Er wird dann trotz der Umstände tüchtig und gilt als ein Beispiel, daß es ja wohl am Millieu nicht liegen könne. – Manchmal reicht auch eine kleine Abweichung, um in die Haltekräfte des Millieus eine Unwucht zu bringen: Ein Onkel oder Opa, der Heranwachsenden einen Bereich erschließt – vielleicht ein Tier oder eine Technik – in dem sie Faszination und Selbstwirksamkeit erleben können.

Nur der geringste Teil unseres Erfolgs geht auf unser Verdienst zurück, fast alles auf die Gunst von Genen und Gesellschaft und die daraus entspringenden selbstverstärkenden Prozesse. Das ganze Ausmaß zu erkennen, in dem wir das, was wir an uns toll finden, nicht verdient haben, kränkt. Die „ungerechte Verteilung der Glücksgüter“ (Max Weber) ist für die Begünstigten oft schwerer einzugestehen als es für die Benachteiligten ist, sie zu akzeptieren. – Daß sich nicht alles um die Erde dreht und das Universum auch ohne Gott denkbar ist, daß der Mensch vom Affen abstammt und unsere angebliche Selbstbestimmung vom Unbewußten gesteuert wird: nach diesen vier großen Desillusionierungen der Menschheit bleibt der Verdienstdünkel der letzte Rückzugsort kollektiver Illusion.

Obwohl die Weisen aller Zeiten darum wußten, war erst die Hirnforschung nötig, um es breitenwirksam dämmern zu lassen, daß es mit unseren Verdiensten nicht so weit her ist, wie unser Selbstbild es gerne hätte.

Es wird sich zeigen, daß Respekt, Wertschätzung und Solidarität die einzig desillusionierten Einstellungen zu allen Menschen sind, zu allen!

Sicher, das wird die Befriedigung zweier Bedürfnisse erschweren: andere Lächerlich zu machen, um sich selbst als was Besseres zu fühlen, und sich gegen sie abzugrenzen mit dem Dogma, jeder kriege, was er verdiene.

Aber wo ist das Problem: Was wäre denn so schlecht daran, wenn wir Menschen ganz anders als jemals in der Weltgeschichte zusammenhielten: gegen ein unendliches Universum in dem wir nicht der Nabel der Welt sind sondern ein bedeutungsloser Zufall, dessen Wohl und Wehe niemanden interessiert…

 

Nachweise

Die Zitate sind aus H.M. Enzensberger (1976): Ein bescheidener Vorschlag zum Schutz der Jugend vor den Erzeugnissen der Poesie. In: ders. Erinnerungen an die Zukunft, Reclam, Leipzig 1988 –

Das diskutierte Interpretationsbeispiel ist aus: Gaier, Ulrich, Wissenschaftssatire, in: ders. Fausts Modernität, Reclam, Stuttgard 2000. – Eine Fülle weiterer Beispiele, wie Gelehrtheit und Scharfsinn nicht vor abstrusen Interpretationen schützen, führt Hans Arens in seinem Kommentar an: Arens, Hans, Kommentar zu Goethes Faust I und II, Heidelberg 1989 (Möglicherweise wurde dieses Werk, das zweifellos der beste Kommentar zu Goethes Faust ist, wegen seiner Ausstellung professuraler Abstrusitäten nie über enge akademische Kreise hinaus verbreitet.) – Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Arenshttps://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Arens

Ob meine Interpretation des Epilogs abstrus ist oder nicht, und wie hineinkonstruiert oder herausgelesen meine Idee, daß Goethe in Fausts Himmelfahrt die Möglichkeit einer utopischen Solidarität feiert, als Gegenmodell zum beschränkten „faustischen“ Individualismus, das alles kann hier besichtigt werden: Zum Epilog von Goethes Faust

Goethe und Quote

Goethes Faust könnte ein Musterbeispiel dafür sein, daß bedeutungsvoller Gehalt so dargeboten werden kann, daß keiner wegzappt.

Unkenntnis und Mißverständnis haben bisher zur Verkennung des Stücks geführt, weil es durch Lesen nur mühsam zu erschließen ist, weil zu viel in das Stück hineingeheimnist wurde, und weil seine Inszenierungen an Einfallslosigkeit und postmodernem Brimborium leiden. Die Folge: Wir haben einen legendären Brillianten, der wie ein stumpfer Rohling aussieht. Aber das traut sich niemand zu sagen, dafür ist er zu legendär. Um seinem Nimbus gerecht zu werden, stellt man ihn in allen möglichen Arrangements zur Schau, doch niemand kommt auf die Idee, einfach mal den Staub runter zu pusten. [Anm.: Was ich einfallslos finde.]

So geht es mit vielen Kunstwerken, die zum „Bildungsgut“ mißverstanden wurden, von Bildungsbürgern, denen es mehr darauf ankommt, sich mit Bildung zu schmücken, statt sich engagiert damit zu beschäftigen. – Kunstwerke gehören nicht ins Museum sondern ins Leben. Sie sind reiche Ressourcen von Lebensfreude, Lebensbejahung und Bewältigung der menschlichen Fragen ans Dasein.

Es ist ungeheuerlich, was den meisten Menschen heute entgeht, weil sie von den Kaufleuten darauf getrimmt werden, Spaß haben zu wollen, statt sich Kunstwerke zu erschließen. Viele intelligente junge Leute sagen mir, es sei ihnen zu mühsam, eine Beethovensinfonie zu hören. Das wirkt greisenhaft. – Goethes Faust könnte uns zeigen: Das Unterhaltsame muß nicht gehaltlos sein, das Faßliche nicht dümmlich und das Reizvolle nicht kitschig. (Beethovensinfonien zeigen das auch, aber die hört ja niemand – dabei ist Beethoven in seinen Sinfonien der größte Zauberkünstler, was die Verbindung von Gehalt, Stringenz, Faßlichkeit und „Hörlust“ betrifft…)

Die guten Ansätze in den Produktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks („Örr“) zeigen, daß wir vieles längst haben, was man für gutes Fernsehen braucht, nur kommt die Kompetenz nicht zum Zuge.

Die Forderung, daß der Örr eine bestimmte Quote erzielen soll, ist unabdingbar. Es geht nicht, daß alle bezahlen, was nur wenige interessiert. Der Örr hat daraus bloß den falschen Schluß gezogen: um der Quote Willen den Privaten nachzueifern mit Trivialisierung und Vulgarisierung.

Von einem Örr ist Qualitätsquote zu fordern: Sendungen mit einer Qualität, die von der privater Sender deutlich und zuverlässig unterscheidbar ist und die dennoch mindestens soviel Quote erzielt, wie die Privaten.

Die Erfahrung, die der Örr bis jetzt mit der Quote gesammelt hat, sind unschätzbar: Der Örr weiß, wann weggezappt wird. Das gilt es auszuwerten. Und es gilt, mit diesen Auswertungen systematisch Experimente zu machen. Aber ich habe bei meinen Recherchen keinen Hinweis darauf gefunden, daß soetwas je stattgefunden hat! Doch genau das wäre nach der Einführung der privaten Sender die Aufgabe des Örr gewesen: mit unterhaltungs- und informationsästhetischen Möglichkeiten zu experimentieren und neue zu entwickeln.

Sollte mein Befund richtig sein, hätte der Örr seinen Auftrag eklatant verkannt oder ignoriert – oder auf gut deutsch: verkackt. – Nichts könnte besser belegen, daß der Örr nicht über zureichende Kompetenzstrukturen verfügt: Die, die wissen, wie´s geht, kommen offenbar nicht zum Zuge. Nur die Funktionäre haben das Sagen, denen es um nichts anderes geht als um eine blinkende Oberfläche, um „Gilt-Als“ und „Als-Ob“. – Aber was nützt ein äußerlich prächtiger Apfel, wenn er innendrin mehlig ist? Zumal, wenn er als Qualitätsobst verkauft wird…

Sicher, Qualitätsserien wie „The wire“ oder „House of cards“ hätten im Hauptabendprogramm kaum Quote. Sie sind dafür zu „sperrig“. Aber es wäre kein Problem, etwas mit vergleichbarem Gehalt auf gleichem künstlerischen Niveau zu produzieren, das faßlicher und unterhaltsamer ist. – Manche „Tatort“-Krimis zeigen diesbezüglich gute Ansätze. – Die Drehbücher müssen gehaltvoller und künstlerisch wertvoller werden und Anklänge an Dilletantensprech bei den Schauspielern dürfen nicht durchgehen. Es ist ein Rätsel, wieso beim reichsten Fernsehen der Welt im Hauptabendprogramm Abend für Abend Dilletantismus präsentiert wird, billig und hastig produzierte Dutzendware, die sich von der der Privaten höchstens dadurch unterscheidet, daß sie von den Anstandswauwaus der Gremien sittlich zurechtgebellt wurde.

Weitere Beiträge zu dieser Thematik:
Blochin oder die Möchte-Gern-Qualität des ZDF
ZDF-Krimiabend: Wie lächerlich will sich das ZDF machen?
Laienspiel. Zum Pfingstmontags-„Tatort“

Anm.:

Was ich einfallslos finde, an den Faust-II-Inszenierungen, die ich bisher sah?

Die Möglichkeiten, Kommentare in die Inszenierung zu integrieren, wurden nicht genutzt. Dabei haben wir heute auf der Bühne alle Freiheiten! – Mephisto z.B. fällt gern aus der Rolle. Wenn man ihn nur ließe, würde er sich keine Möglichkeit entgehen lassen, etwas ironisch zu kommentieren…

Merkwürdig eigentlich: der Kreativität der Regisseure und Dramaturgen wäre da keine Grenze gesetzt. Die wollen doch so gerne super kreativ sein! Die Ausarbeitung solcher Kommentare stellt höchste Anforderungen an Witz und Prägnanz und es erfordert viel Kreativität, das Kommentieren so hinzukriegen, daß es paßt: das es sich nahtlos einfügt, die Stringenz eher erhöht statt stört, und daß es so sparsam eingesetzt wird, daß es das Stück nicht überfrachtet.

Leider nutzen die Regisseure ihre Kreativität eher dazu, den Wanderer auf Rollschuhen um Baucis herumkreisen zu lassen, die von einer jungen Frau im Hochzeitskleid gespielt wird (so geschehen in Weimar).

Stemann lud gleich Goethe persönlich mit seinem Faust-II-Team live auf die Bühne ein. Das war eine gute Idee. Aber offenbar hatten die keinen Bock, denn es kam nichts dabei herum. Außerdem würde Mephisto das viel unaufwändiger und eleganter hinkriegen. Und es gibt in dem Stück weiß Gott auch noch genug andere, die über das, was sie da machen, mal nen Ton mehr sagen könnten, als vorgeschrieben…

Wir Förderer des Faustischen

„Faustisch“ ist: Etwas ganz Tolles wollen aber es vermasseln, weil man es so toll findet, daß man sich nicht vorstellen kann, es einer Realitätsprüfung unterziehen zu müssen. (Faustische Verblendung).

Mit unsern Steuergeldern helfen wir, Menschen zu vertreiben. Die Weltbank möchte nicht rechtsverbindlich auf die Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet werden und finanziert Faustisches: Projekte, die die Entwicklung eines Landes ganz toll vorantreiben sollen. – Blöd nur, daß die Einheimischen das nicht einsehen und nicht freiwillig dem Fortschritt weichen.

„Die Bank fördert nachweislich immer wieder große Projekte mit Milliardensummen, bei denen Polizei, Behörden oder Unternehmen der begünstigten Länder die Grundrechte der Betroffenen missachten.“ Im vergangenen Jahrzehnt seien „rund 3,4 Millionen Menschen gewaltsam und ohne ausreichende Entschädigung aus ihren Heimatorten vertrieben“ worden. (Tagesspiegel 23.10.15  S.15). –

„Das alte Wort, das Wort erschallt,
gehorche willig der Gewalt,
und bist du kühn und hälst du Stich,
so wage Haus und Hof und dich!“

So singen Mephisto und seine Spießgesellen nachdem sie die Einheimischen, die Faust zwangsumsiedeln wollte, umgebracht haben.

Die durch menschenrechtsignorierende Projekte erreichten Fortschritte sind offenbar Scheinfortschritte: UN-Sonderbotschafter Philip Alston gibt an, es sei „umfassend belegt, daß die Bekämpfung der Armut nicht funktioniere, wenn den betroffenen Menschen nicht ihre grundlegenden Rechte zugestanden würden“ (Tagesspiegel ebd).

Was hat unsere Vertreter so lange davon abgehalten, sich dafür einzusetzen, daß die von uns mitfinanzierte Weltbank sich an die Regeln hält? – Hoffen die alle auf die Erlösung durch die Muttergottes, wie sie Faust widerfuhr? Die gibt es nicht umsonst! Wer die will, der kriegt es mit den „Seligen Knaben“ zu tun! Die zwingen einen zur Einsicht in die eigene Blödheit… (Die seligen Knaben sind wißbegierig: „Denn dieser hat gelernt, er wird uns lehren“ erklären sie. Und sie wollen bestimmt mehr erfahren, als nur etwas über Mädchenverführung, Finanzmanipulation und Dammbau. Soche Themen werden sie vermutlich schnell langweilen. Sie werden bohrende Fragen stellen, sie wollen etwas darüber wissen, wie die Erwachsenen sich in die wirkenden Kräfte der Welt verstricken und was sie dagegen unternehmen können und warum sie diese Möglichkeiten so selten nutzen…)

(Allerdings gibt es Entwicklung: Laut Tagesspiegel unterstützt die amtierende deutsche Weltbank-Exekutivdirektorin Ursula Müller die Forderung nach einer „verbindlichen [d.h. einklagbaren] Verankerung der Menschenrechte“ in den Richtlinien der Weltbank. Der Prozess der Zivilisation schreitet voran. Das Faustische wird irgendwann zum Auslaufmodell… )

ARD, ZDF und Pegida

Sport, schmierige Sentimentatlität und dilettantische Schauspielleistungen: das füllt die größten Programmflächen von ARD und ZDF. Dilettantisch ist: wenn Schauspieler sprechen wie gecoachte Laien. Von einem Profi kann man mehr erwarten. Meine Erklärung für den Dilettantismus: Die Drehbücher sind miserabel, so was kann man wahrscheinlich nicht „echt“ sprechen, und die Produktionsbedingungen erlauben den Schauspielern keine Vorbereitung. – Von den wenigen Schauspielern, die unter diesen Bedingungen dennoch eine gute Figur machen, liest man, daß sie erfahrene und renommierte Theaterschauspieler sind. ARD und ZDF bringen solche Kunstfertigkeit offenbar nicht hervor. Aber genau das gehörte eigentlich zum Kulturauftrag…

Was hat das mit Pegida zu tun? – Wie kommen wir darauf, daß es spurlos an Menschen vorüber geht, wenn man sie täglich stundenlang schmierig-sentimentalen Schmonzetten aussetzt  mit dümmlich gekünsteltem Dilettantensprech? Der Realitätssinn verkümmert, Beschränktheit wird gefördert und Geschmacklosigkeit trainiert. Die Menschen können das Echte vom Unechten nicht mehr unterscheiden und das Wichtige nicht mehr vom Unwichtigen. Und sie orientieren sich in der Welt einseitig mit ihrem Gefühl und das ist dumpf und kitschig aber sie halten sich darauf was zugute. Es entsteht ein verzerrender Wirklichkeitssinn und ein nahezu infantiler Unwille, sich in Frage zu stellen.

Es heißt: Das Privatfernsehen sei noch viel schlimmer. – Wenn ich beim Konditor eine ganz besonders teure Torte bestelle und dann nur eine noch üppigere Portion aus Fett und Zucker kriege, mit dem einzigen Unterschied, daß Bio draufsteht – dann kann ich natürlich sagen: Immer noch besser, als wenn Pestizide und Schwermetalle drin sind. Ich kann aber auch sagen: Beschiß! Zucker bleibt Zucker und Fett Fett, da könnt ihr Bio draufschreiben soviel ihr wollt!