Aus den „Phantastischen Bagatellen“ von Daniel Seefeld
(Lesezeit: 6 Minuten)
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Ich brauche nicht länger zu schweigen, ich bin ein alter Mann, mir kann nichts mehr passieren.
1956 wurde ein 80 mal 60 Kilometer großes Gebiet in Alaska zum militärischen Sperrgebiet erklärt. Mehrere Monate vorher hatten Astronomen einen Asteroiden entdeckt, der sich merkwürdig verhielt: Er schien zu bremsen und schwenkte dann auf die Umlaufbahn der Erde ein. Er ging in Alaska nieder – aber sehr behutsam: es gab keinerlei seismische Erschütterung, obwohl er riesig war: etwa 60 Kilometer lang und 30 Kilometer breit, aber nur 300 Meter hoch. Es war klar: Das war kein Asteroid. Wir nannten es nur: „Das Ding“. Es war elliptisch und lief vorne spitz zu. Aus großer Höhe erinnerte es an eine riesige Zecke. Es hatte auf einer unebenen Fläche aufgesetzt und lag nur an drei Stellen auf. Das ermöglichte uns, es von allen Seiten zu untersuchen.
Wir fanden keine Einstiegsluken. Daher warteten wir, ob sich irgendetwas tat. Doch das Ding lag wie tot, Monat für Monat. So reifte unser Entschluß, in es einzudringen. – Seine Außenhülle war über und über zerklüftet und schrundig, das Ding mußte viele Meteoritenfelder durchquert haben. Das Material der Hülle erinnerte entfernt an Kautschuk, zumindest traute man ihm zu, beim Aufprall von Meteoriten nicht ganz unelastisch zu sein. Doch es war so fest, daß die stärksten Bohrer nicht eindringen konnten. Und selbst die heißesten Brenner hinterließen nichts als Ruß auf seiner Oberfläche.
Wir kamen nicht rein und nichts kam raus. Das Ding lag da wie ein Stein, nichts rührte sich. Hätte es nicht so behutsam aufgesetzt, hätten wir es auch für einen Stein gehalten. – Mittlerweile schrieben wir das Jahr 1958. In den folgenden Jahrzehnten lernten wir Menschen, zum Mond zu fliegen, erfanden immer stärkere Computer und drangen in die Nanodimension vor. Aber in das Ding hinein kamen wir nicht. Wir zerbrachen uns nur unsere Köpfe.
Wie bei allen ungelösten Rätseln der Wissenschaft entstanden auch über das Ding viele konkurrierende Theorien. Meine Theorie setzte sich schließlich durch: Daß es sich um ein verendetes intergalaktisches Lebewesen handele, ein Lebewesen, das zwischen den Sternen geboren und zu Hause war, auf unseren Planeten gekommen um hier zu sterben. – So wie wir aus Wärme Strom und aus Strom Wärme machen können, konnte das Wesen offenbar die Energie, die sein Organismus erzeugte, in Gravitationsenergie transformieren und so die Gravitation steuern. Das hatte ihm gestattet, mit der Masse einer Großstadt so geräuschlos wie eine Katze aufzusetzen. Die Hoffnung, herauszufinden, wie es das machte, beflügelte unsere Versuche, seine Außenhülle zu durchdringen.
Was gegen meine Theorie sprach, war das völlige Fehlen von Sinnesorganen und Körperöffnungen. Aber ich machte geltend, daß dieser Einwand vielleicht zu terrestromorph gedacht sei, zu sehr von uns auf andere geschlossen. Wer weiß, wie Wahrnehmung und Stoffwechsel bei intergalaktischen Lebewesen organisiert sind.
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Manchmal ist es so einfach! Doch manche auf der Hand liegenden Möglichkeiten erscheinen so sinnlos, daß lange Zeit jeder Gedanke daran, sie zu nutzen, verlacht wird. – Erst 2001 machte jemand den Vorschlag, mal an den Stellen, an denen das Ding aufsaß, zu graben.
Und tatsächlich: Wir stießen auf eine Röhre! Sie hatte 10 Meter Durchmesser und war aus keramischem Material. Sie ging in die Tiefe und erweiterte sich dort zu einer Kammer, aus der etwa 8 Meter unter der Oberfläche waagerecht zwei weitere parallele Röhren austraten, von denen jede etwa einen Meter Durchmesser hatte. – Da wir die Keramik genausowenig durchdringen konnten, wie den Kautschuk, gruben wir die Röhren erst einmal immer weiter aus. Sie schienen endlos.
Meine Theorie war widerlegt. Wir hatten es offenbar doch mit einem Raumschiff zu tun, jedenfalls schienen die keramische Röhren und Kammern alles andere als organisch gewachsen zu sein.
Stellen Sie sich vor, Sie sind ausgehungert und finden Nüsse, aber Sie kriegen die Schale nicht auf! So fühlten wir uns! Fieberhaft arbeiteten wir an Möglichkeiten, die Keramik zu sprengen. Schließlich gelang es! – Die Baustelle wurde von Panzern umstellt, Kampfhubschrauber stiegen auf und Kampfjets wurden zur Unterstützung angefordert, denn offensichtlich waren wir Eindringlinge und mußten mit Gegengewalt rechnen.
Doch was dann kam, war enttäuschend: Das Raumschiff war leer! Alles weg! Sie hatten alles mitgenommen, bis zum letzten Knopf und bis zum kleinsten Schräubchen! Allerdings dauerte es Monate, bis wir diesen Befund erheben konnten, Monate unbeschreiblich anstrengenden Herumkriechens in engen Gängen und Kammern, die selten höher als 1,20 Meter waren, stockfinster, und mit einer so stickigen und stinkigen Luft, daß wir Atemgeräte brauchten. Wir bewegten uns durch die nicht enden wollenden Engen wie Höhlentaucher – abgesehen von einigen riesigen Hallen, die wohl Laderäume gewesen waren. – Immer hatten wir Hoffnung, daß – wie bei einem Wohnungsauszug – doch noch irgendetwas aus Bequemlichkeit oder Unachtsamkeit liegen geblieben sei. Aber das war nicht der Fall: Das Schiff wirkte wie ausgefegt.
Immerhin konnten wir sehen, wie es konstruiert war: Die äußere Hülle wurde durch Innenstreben aus dem gleichen kautschukartigen Material stabilisiert. Hülle und Streben wirkten wie aus einem Guß. Dann gab es ein davon unabhängiges „Innenskelett“ aus Legierungen uns bekannter Metalle. Dieses Innenskelett war mit dem Außenskelett nicht verbunden sondern lag lose darin. Wir nahmen an, daß es in der Schwerlosigkeit im Außenskelett schwebte. In diesem Fall würde der Abstand zwischen Innen- und Außenskelettteilen rund 100 Meter betragen haben. Offenbar wurden dadurch selbst schwere Stöße durch Meteoriten nicht an die Insassen weitergeleitet.
An der Innenseite der Außenhülle konnten wir viele Lukenansätze erkennen, wir vermuten: für Sonnensegel, um Sonnenenergie zu tanken. Auf den Reisen durch die Dunkelheit zwischen zwei Sonnen wurden die Sonnensegel wahrscheinlich eingezogen und die Luken wuchsen auf der Außenseite offenbar regelmäßig zu.
Die Metallegierungen konnten wir analysieren und auf ihr Alter untersuchen. Allerdings glaubten wir die Untersuchungsergebnisse zunächst nicht, doch sie bestätigten sich immer wieder: Das Schiff mußte rund zwei Millionen Jahre alt sein!
Stellen Sie sich vor: Eine Spezies, die zwei Millionen Jahre in einem engen, dunklen Schiff eingesperrt ist! Sie waren vermutlich vor dem Ausbrennen ihrer Sonne geflüchtet, und hatten einen wirtlichen Planeten gesucht. Und offenbar gibt es von denen nicht viele. – Außerdem müssen wir davon ausgehen, daß so ein riesiges Schiff kaum auf mehr als einige 10 000 Stundenkilometer zu beschleunigen ist – Schneckentempo, um nicht zu sagen Gletschertempo gemessen an den kosmischen Weiten. – Schon allein wegen der Notwendigkeit, nach jahrhundertelangem Flug durch sonnenferne Dunkelheiten Energie zu tanken, schien es uns unmöglich, schneller zu fliegen, als vereinbar mit einem Einschwenken auf die Umlaufbahn einer wärmenden Sonne. – Kein Wunder, wenn sie mit so einem langsamen Schiff Jahrhunderttausende gebraucht hatten, um ein Sternensystem nach dem andern nach wirtlichen Planeten abzusuchen!
Nun war zwar Generation um Generation in dieser kautschukummantelten Blechbüchse ins Leben getreten, die kannten gar nichts anders, dennoch: Ihre Gene – falls sie sowas haben – hatten wahrscheinlich nie aufgehört zu meckern über den Verschluß in Enge und Kunstlicht. Wir wagten nicht, uns die Sehnsucht, ja, die Gier dieser Wesen nach Licht und Luft vorzustellen!
Die Röhren, die waagerecht unter dem Boden verliefen, endeten – na, was denken Sie wo die endeten? – sie endeten auf dem verlassenen Gebiet eines Bergwerkunternehmens, etwa 150 Kilometer vom Raumschiff entfernt. – 1964 hatte ein bis dahin unbekanntes Unternehmen sich eine Schürflizenz erworben, von allen verlacht, weil niemand glaubte, daß an dieser Stelle etwas zu finden sei. In der Tat waren die Arbeiter trotz eines regen Lastwagenverkehrs nach einigen Jahren abgezogen und hatten nichts als zerwühlte Erde zurückgelassen.
Die Recherchen ergaben, daß kein einziger der an dieser Unternehmung Beteiligten, weder die Gründer noch deren Arbeiter, ja nicht einmal der Pförtner, noch aufzufinden war. Sie waren auch nicht als verstorben gemeldet. Sie waren einfach weg. Angehörige konnten nicht ausgemacht werden.
Den Bau der Röhren konnten wir uns nur so erklären, daß zunächst nur eine gegraben wurde, durch einen Pionierroboter, der die Erde, die er vorne weggrub, nach hinten durchschleuste, bis er auf dem späteren Bergwerksgelände herauskam. – Einige der Wesen, als Menschen verpuppt, waren wohl schon vorher ausgestiegen, um die Schürflizenz zu erwirken und das Gelände abzusperren. – Die Röhren waren mit einem ultrastabilen Schienensystem ausgestattet. Während wir jahrelang rätselnd herumstanden, waren 8 Meter unter unseren Füßen Hochgeschwindigkeitsschlitten hin und her geflitzt!
Möglich war auch, daß sie irdische Helfershelfer hatten, vielleicht gab es ja eine Geheimgesellschaft von Menschen, mit denen die Außerirdischen schon lange vorher Kontakt über Funk aufgenommen hatten. Doch das ist Spekulation.
Nun ist die Frage: Warum laufen sie als Menschen verpuppt herum und geben sich nicht zu erkennen? Was fürchten sie? Oder was wollen sie? Auch darüber können wir nur spekulieren, und Spekulationen gibt es viele. Sicher ist nur – beunruhigend sicher – daß sie viele viele Generationen weit in die Zukunft denken können und ziemlich abgehärtet und anspruchslos sein müssen. Sie brauchen nichts zu überstürzen sondern werden einen langen Atem haben, einen verdammt langen…
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