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Inhalt:
(1) Wer ist Mephisto?
(2) Probleme der Mephisto-Interpretation
(3) Zu Mythologie des Teufels
(1) Wer ist Mephisto?
Offenbar nicht Luzifer sondern einer seiner Engel. Gott nennt ihn „Schalk“ und sagt, daß er ihn nicht haßt. Es gibt also offenbar weit ärgere „Geister die verneinen“, die der Herr nicht gerne sieht und denen es wohl auch im Traum nicht einfallen würde, sich im Himmel blicken zu lassen. – Ist Luzifer der Anstifter des Rebellion gegen Gott, ein Fundamentalist, so gehört Mephisto offenbar zum gemäßigten Flügel von Luzifers Partei, zu den Realos, möglicherweise bloß aus strategischen Gründen.
Mephistos Wort, er sei „ein Teil von jener Kraft die stets das Böse will und stets das Gute schafft“ wird oft dahingehend gedeutet, er gebe resigniert Gottes Verplanung des Bösen zu: daß die Rebellion gegen die Schöpfung nicht nur aussichtslos sei, sondern sogar noch ein Dienst an ihr. – Doch für wahrscheinlicher halte ich, daß Mephisto mit seinem Wort meint: „Das, was ihr das Böse nennt, ist in Wirklichkeit das Gute“. (So konkretisiert er z.B. wenige Verse später: „alles, was ihr Sünde, Zerstörung, kurz das Böse nennt“ (Hervorhebung von mir.)
Mephisto ist die Verkörperung von Charakterlosigkeit, die Verkörperung jener Instanz in uns, die gegen Geduld rebelliert: Gegen Verzicht auf Trieb- und Stolzbefriedigungen, gegen das Aushalten von Frustrationen, Kränkungen, Einschränkungen, und gegen das Aufsichnehmen und Durchhalten von Mühen und Anstrengungen.
Das Mittel der Rebellion ist das Lügen: Schönfärberei (die Deportation des alten Ehepaars nennt er „Kolonisieren“), Schmeichelei (bei den Phorkyaden zeigt er die Kompetenzen eines vollendeten Staubsaugervertreters), manipulative Lenkung der Aufmerksamkeit (Wald und Höhle), Unterschlagen von Information (Trüber Tag) und Vorspiegelung falscher Tatsachen (Kaiserhof). Es sind die Mittel, mit denen wir uns selber betrügen, um uns Spaß auf Kosten von Sinn zu erlauben. (Süchtige gehen daran zugrunde, wenn sie nicht lernen, sich zu durchschauen.) – Der „Lügengeist“, wie Mephisto sich selbst nennt, ist so triebhaft, daß die Engel ihn am Schluß mit seiner Geilheit austricksen.
Und er liebt es, die Aggression über seinen Daseinsfrust an den Menschen auszulassen, in dem er ihnen alles Schöne zerschlägt. So treibt er genüßlich Prommifrau Helena mit Desillusionierungen über ihre Vergangenheit in eine Identitätskrise.
(2) Probleme der Mephisto-Interpretation
Der Germanist Michael Jaeger versteht Mephisto als eine Seite von Fausts Persönlichkeit, ähnlich wie Dr.Jekyll und Mr.Hyde. Das ist sicher ein Aspekt der Mephistofigur. Doch es ist sinnvoll, sie nicht darauf zu reduzieren.
Ein Beispiel: Mephisto sagt, Faust sei unersättlich. Wenn Mephisto nur ein Teil von Faust ist, muß daß stimmen. So versteht es Jaeger (Jaeger, S. 54 und 82). Damit trifft Jaeger eine Vorentscheidung für seine Interpretation von Fausts Motivation: Der Wissensekel verwandle sich in „unstillbaren Hunger, jede Realität durch eine andere Wirklichkeit zu ersetzen“ (Jaeger, S.76). – Faust sagt jedoch von sich selbst, daß er danach strebe, sich dem Taumel zu weihen. Er will sich treiben lassen, ja. Aber ist das „unstillbarer Hunger“? Man könnte es so sehen, man könnte es aber auch anders sehen (dazu mehr in: Macht sich Faust zum Testpiloten Gottes?)
Ich halte es für sinnvoller, offen zu lassen, was Mephisto ist, ihn also mal als eine Seite von Fausts Persönlichkeit zu verstehen, mal als eine Personifikation unserer menschlichen Niedertracht. Dann könnten wir Mephistos Aussage über Faust auch verstehen als eine für Teufel typische Verkennung, die mehr über Teufel aussagt als über Faust: Niedertracht ist so beschränkt, daß sie jeder menschlichen Regung und Bestrebung nur etwas Niederträchtiges unterstellen kann.
Literaturnachweis: Jaeger, Michael, Goethes Faust, München 2021, S. 65: „Den für das aufgeklärte Publikum des 19.Jahrhunderts völlig antiquierten Teufel modernisiert Goethe, indem er aus dem archaischen Diabolos eine Bewußtseinsdisposition Fausts macht“. – (Ein Nachweis, in welcher Schrift und mit welchen Worten Goethe das macht, fehlt. Stattdessen gibt es nur einen Literaturhinweis auf eine Philologenschrift, die offenbar Gründe für diese Deutung anführt.)
(3) Zur Mythologie des Teufels
Wie kamen Menschen auf die Mär vom gefallenen Engel? – Vielleicht so: Eine Stammesgemeinschaft verkörpert ihren Zusammenhalt in einem Heiligen. Irgendwann wächst ein Quertreiber heran, ein hochbegabter Psychopath, der nicht einsieht, sich in die Gemeinschaft einordnen zu sollen. Durch jede Unterordnung fühlt er sich gekränkt. Er will sich nicht einschränken lassen und nicht gehorchen. Deshalb versucht er, seinen Leuten das Heilige madig zu machen.
In diesem Sinne ist Luzifer Sinnbild für eifersüchtigen, kranken Stolz, für Machtgier, für Mangel an Gemeinschaftssinn, für Eigensinnigkeit, Triebhaftigkeit, Mißgunst und Grausamkeit. Und weil er mit Frustration nicht klarkommt, sich nicht freuen kann und das Gute nicht zu schätzen weiß, sondern mißgünstig auf die Daseinsfreudigen blickt, deshalb fragt er sich „Warum ist überhaupt Etwas und nicht Nichts?“. Er würde das Dasein am liebsten zum Totalsuizid anstiften oder vernichten.
Mythische Geschichten gibt es immer in vielen Varianten, so auch den Mythos vom gefallenen Engel. Der junge Goethe fabulierte sich seine eigene verschwurbelte Variante und präsentierte sie später in seiner Autobiographie als stolze Jugendsünde.
Eine der virtuosesten Variationen ist wohl die des französischen Schriftstellers Anatol France. Er dreht die Geschichte um: Jahwe sei ein Gott unter anderen, und zwar ein ebenso geist- und humorloser wie lob- und herrschsüchtiger Gott, der es geschafft habe, seinem Kreis von Engeln weis zu machen, er sei der einzige Gott und habe alles erschaffen.
Früher oder später habe es zum Krieg mit seinem geistvollen, daseinsfreudigen Gegenspieler kommen müssen, mit Luzifer – einem Krieg, den Jahwe bloß deshalb gewonnen habe, weil er sich frühzeitig, als noch gar kein gewaltsamer Konflikt abzusehen war, die Macht über die Blitze gesichert habe.
Den Menschen, die später entstanden – und die genauso wenig seine Schöpfung seien, wie alles andere – den Menschen habe er dann die Verschwörungstheorie von Luzifer aufgetischt, als auf seinen Schöpfer eifersüchtigen Ex-Engel. – (In der Tat könnte der jüdisch-christlichen Religion vorgeworfen werden, den Hergang im Himmel nur aus der Sicht des Siegers darzustellen. Dabei wußte schon die antike Helena: „Es ist des Richters erste Pflicht, Beschuldigte zu hören.“ … )
Luzifer habe eine zweite Chance gegen Jahwe bekommen dank der menschlichen Kapitalisten, die mit ihm einen Deal gemacht hätten: Wenn er aufhöre, den Arbeitern revolutionäre Ideen einzuflüstern, finanzierten sie seine Revolution gegen Jahwe.
Als es soweit gewesen sei, Luzifer hätte nur noch auf den Knopf drücken müssen, da habe er eine Vision von den nachrevolutionären Himmeln gehabt: Er habe gesehen, daß seine Anhänger eine genauso dröge und drückende Herrschaft errichten würden, wie Jahwe, und sich im Grunde nicht viel ändern würde. Da habe Luzifer die Revolution dann lieber abgeblasen… (Anatole France, Aufruhr der Engel (1914), Aufbau Verlag 1986)
Wieder eine andere Variante bietet D. Seefeld in seiner Erzählung „Subversion im Himmel“: Die „Große Seligkeit“ im Himmel ist genervt, weil einige Seelen einfach nicht akzeptieren wollen, daß viele Seelen auf ewig verdammt sind.
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