King buchstabiert in diesem Roman aus, was es bedeutet, wenn der Zweck die Mittel heiligt: Es geht um die Folgen skrupelloser Experimente mit Menschen im Dienste der nationalen Sicherheit.
In der Figur des Chefs der Geheimdienstorganisation bietet uns King eine kleine Phänomenologie der Banalität des Bösen, eine Phänomenologie von Schreibtischtätern. – Allerdings hat Kings Chef eine gewisse Reife: Er hat dann doch Skrupel bei den menschenverachtenden Sicherheitsmaßnahmen, gibt aber schließlich den Versuch auf, das, was er tut, noch ernsthaft ethisch vor sich rechtfertigen zu wollen.
Die Geschichte kann außerdem gelesen werden als Studie darüber, was es für Kinder bedeutet, wenn sie wegen ihrer Fähigkeiten von den Erwachsenen verplant werden und nicht unbeschwert Kind sein dürfen.
Erbauend ist Kings Schilderung eines in seiner Reife und Schlichtheit vorbildhaften Charakters, der versucht, Vater und Tochter zu helfen.
Beklemmend ist der zweite Teil des Buches: Das Mädchen wird vom Vater isoliert, und jemand versucht planmäßig und gezielt ihr Vertrauen zu gewinnen, um sie für seine eigenen persönlichen Experimente zu benutzen und schließlich zu töten. Das ist der eigentliche Horror des Buches.
Das was King hier darstellt, hätte er allerdings noch besser in seiner ganzen Perfidität weiterentwickeln können. Er geht zu schnell dazu über, daß das Mädchen seine Zweifel überwindet, seine Zweifel, ob sie mehr dem Vater vertrauen soll, bei dem sie nicht weiß, ob er durch Folter oder Gehirnwäsche verändert wurde, oder dem Wärter, der ihr vormacht, ein heimlicher Rebell zu sein. Hier buchstabiert King einen wahrhaft horrenden Konflikt nicht aus.
Wie in allen seinen Geschichten scheut sich King auch in diesem Roman nicht, allem was Spannung erzeugt, soviel Raum zu geben, wie seine Fabulierlust möchte. Das macht auch diesen Roman zu lang, zumindest, wenn man es von einem künstlerischen Standpunkt aus betrachtet: Es gibt Szenen und Charakterisierungen, die sich im Nachhinein als unnötig herausstellen oder als zu ausführlich . – Im Nachhinein! King schreibt so packend, daß man das beim Lesen selbst nicht merkt. Bloß hinterher bleibt ein Gefühl von Hohlheit zurück, von viel taubem Gestein um ein paar Kristalle herum.
King ist wie jemand, mit dem man spazieren geht, und der an jeder Ecke stehenbleibt um umständlich zu fotographieren.
Auch das „show-down“ ist in dieser Art altbekannt. – Das Ende ist nicht das einzig Mögliche. Man fragt sich: Wieso machen die Protagonisten das nicht besser, sie hätten doch bessere Lösungen zur Verfügung gehabt? Hier scheint King etwas hinbiegen zu müssen, um seinen Plan nicht ändern zu brauchen.
Natürlich darf eine Geschichte erzählen, daß den Helden im Eifer des Gefechts nur suboptimale Lösungen gelingen. Aber dann sollte die Geschichte – wie eine Novelle – davon handeln, wie die Helden mit den Folgen klarkommen. – Wenn die Frage entsteht: „Welchen Sinn verbindet der Autor damit, einen schmerzhaften Ausgang zu wählen, wenn die Geschichte einen schmerzfreien genauso gut möglich macht?“, dann wirkt das Horrorhafte gewollt. Man fühlt die Absicht und man ist verstimmt. – Kings Geschichten haftet öfter etwas davon an. – Doch seine Qualität zeigt sich darin, daß sie dennoch lesenswert sind.
Allerdings: Ich muß zugeben: die letzten hundert Seiten habe ich in einer halben Stunde quer gelesen. Und wenn ich jetzt Stichproben mache, bereue ich das nicht, im Gegenteil.
Das Buch könnte mühelos um ein Drittel gekürzt werden. Und mit ein wenig Mühe auch auf die Hälfte. Künstlerisch würde der Roman dadurch um ein Vielfaches gewinnen. Für Leute die Lesevergnügen suchen, würde er dadurch freilich viel verlieren.
King selbst scheint es nicht darum zu gehen, ein vollendetes Kunstwerk zu schaffen, sondern seiner Fabulierlust zu frönen. Und er weiß, daß er dabei auf seine Begabung vertrauen kann, die Begabung, jederzeit genügend künstlerischen Gehalt mit herauf zu schürfen, und mehr als nur pures Lesevergnügen zu bieten.
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