King hat eine beneidenswerte Auffassungsgabe für Menschen. Ein Beispiel: Eine junge Frau die zwanghaft ist, ängstlich und von anderen Menschen abhängig, beschreibt er auf eine so lebensechte Weise, wie ich es als Therapeut, der dieses Störungsbild gut kennt, unmittelbar nicht könnte. Außerdem fehlt mir die „Antizipationsfähigkeit“, wie Goethe das nannte, um mir gleich die ganze Familie vorstellen zu können, die Art und Weise, wie die Beeinträchtigungen der Frau und die Verhaltensweisen der Familienmitglieder zu einem System zusammengewachsen sind. – Ich hätte mindestens eine Woche mit so einer Familie zusammenleben müssen, um so eine Beschreibung hinzukriegen!
Offenbar vereint King ein nahezu filmisches Gedächtnis mit einer schnellen Auffassungsgabe, die ihm gestattet, aus wenigen markanten Punkten den Rest zu erschließen. Stephen King hat eine phänomenale Menschenkenntnis. Und das entschädigt.
Denn die Stärken des Autors wenden sich künstlerisch gegen ihn: Viele seiner Geschichten sind langatmig und bringen wenig Erkenntnisgewinn – auch wenn sie so gut und spannend geschrieben sind, daß es sich liest wie mit dem Rad die Alpen bergabfahren. – Und ich verdanke King viel Vorfreude: Die Aussicht, nach einem anstrengenden Arbeitstag in der U-Bahn einen neuen King-Roman zu lesen, erleichterte mir nicht selten die letzten Arbeitsstunden.
Doch nach einer King-Lektüre stellte sich oft ein Gefühl von Unzufriedenheit und Leere ein. Allerdings auch nur, weil ich meist mehr gewünscht hatte, als pures Lesevergnügen.
Einige seiner Romane und Erzählungen habe ich nicht zu Ende gelesen, es war mir zu unergiebig: „Brennen soll Salem“, „Das Bild“, „Sara“. – Bei anderen, wie „Friedhof der Kuscheltiere“ habe ich bedauert, sie zu Ende gelesen zu haben. Wieder andere, wie „Sie“ oder „Dolores“ waren toll zu lesen, doch hinterher dachte ich: „Das hättest Du Dir auch sparen können.“ Ähnlich ging es mir mit „Atlantis“. – Der Roman „The Cell“ ist ärgerlich und ich frage mich, ob King ihn selbst geschrieben hat. – Ärgerlich fand ich auch „Desperation“, in dem Gott und Teufel nahezu leibhaftig ihren Auftritt haben. Das muß zwangsläufig zu allen Arten von Widersprüchen führen, an denen 2000 Jahre Theologie sich vergeblich abgearbeitet hat, Widersprüche der Art: „Wenn Gott das nicht will, warum macht er dann nicht einfach ‚Schnipp'“.
Doch auch in unergiebigen Romanen gibt es Abschnitte, in denen sich der Text zu höherer Kunst verdichtet, z.B. die Beschreibung der schweren unheilbaren Nervenerkrankung eines Mädchens in „Friedhof der Kuscheltiere“ (Kap. 32) , oder die Beschreibung stark rechtslastiger Männlichkeitsvorstellungen in „Das Bild“ . – In „The Stand“ gibt es eine Passage über eine junge Frau, die unehelich schwanger ist und ihre Mutter darüber informiert. Aus dem Roman als Kurzgeschichte herausgelöst könnte diese Passage in einer Sammlung der besten Kurzgeschichten der amerikanischen Literatur stehen.
Das Niveau von Kunstwerken können Kings Schilderungen von Figuren, inneren Dialogen und Interaktionen fast immer beanspruchen. Für mich wirken sie oft wie kleine Wunder. Das ist Kings große Begabung. Daher kann ich ihm auch verzeihen, wenn in seinen Büchern immer wieder Menschen mit telepathischen Begabungen auftauchen: Ich schätze, King muß seine Begabung in jungen Jahren ähnlich erlebt haben wie seine erstaunten telepathischen Protagonisten: als ein Erkenntnisvermögen, daß ihm einen weit größeren Zugang zur Menschenseele gestattet, als andern Menschen.
Aber Telepathie ist keine ästhetisch intelligente Metapher für Hochbegabung. Denn fast alle Werke Kings kranken an den Widersprüchen, die daraus entstehen, daß die Lesenden sich ständig die Frage stellen: „Wenn King fantasiert, daß das möglich ist – warum fantasiert er dann nicht, daß auch das möglich ist?“ – Kings Probleme und Problemlösungen sind willkürlich, so wie er es gerade braucht, um Spannung zu erzeugen. So muß er sich z.B. immer wieder irgendwas ausdenken, warum in dieser Situation der Held gerade nicht telepathisch ist, weil: sonst wär das Problem schnell gelöst oder gar nicht erst entstanden. Wie blöd wäre das für den Roman! – Wer mit Telepathie und Telekinese fantasiert, darf nicht konsequent sein, sondern sollte über seine Einfälle möglichst nicht lange nachdenken.
King ist ästhetisch weit intelligenter als ich. Was ich ‚konsequent‘ nenne, würde er zwanghaft nennen. Und er hätte nicht ganz unrecht damit. Aber auch nicht ganz recht.
Eine der besten Stärken Kings sind seine Schilderungen von inneren Dialogen: Was seine Heldinnen und Helden mit sich selbst reden, um sich zu orientieren, zu beruhigen oder zu motivieren. Dabei greifen sie nahezu pausenlos darauf zurück, was Freunde, Ex-Partner, Vorbilder, aber auch Lieblingsfeinde immer gesagt haben, sowie auf vieles aus Songs und sonstigen Medienhypes der Popkultur. Für Deutsche ist das zwar meist unbekannt, aber wir können uns Entsprechungen in unserer Popkultur vorstellen. – Wer viel King liest, und sich für die inneren Dialoge Zeit nimmt, kann seine eigenen inneren Dialoge – d.h. seine eigene Orientierung, Realitätsprüfung, Selbstkritik, Selbstberuhigung und Ermutigung verbessern!
Das Beste, was man bruchlos über Kings Geschichten sagen kann, ist: sie sind verspielt: Gehaltvolles, eingebettet in Spannendes und Gruseliges. – Die künstlerische Qualität ist meist großen Schwankungen unterworfen. Die Erzählung mit der ängstlichen Frau z.B. mündet in eine Zombiegeschichte. Das ist einfach einfallslos, und alles, was da an Horror kommt, ist altbekannt und vorhersehbar, „man fühlt die Absicht und man ist verstimmt“. Der ganze zweite Teil der Geschichte ist – zumindest da, wo sie „phantastisch“ ist – einfach langweilig. So geht es mit vielen seiner Geschichten.
Hinzu kommt Kings Fabulierlust. In fast allen Romanen gibt es jede Menge unnötiger Komplikationen und Handlungsstränge. Das ist sein Tribut an das Genre, denn es geht meist um „Action“ und „Horror“, die inhaltlich nichts zum Plot beitragen. Ich finde das ärgerlich. Ständig muß man querlesen! 50 Seiten in 10 Minuten, das ist anstrengend, aber das kleinere Übel für Leute, die keine Zeit verschwenden wollen.
Ich schätze, King würde es selber begrüßen, wenn es neben den Originalausgaben gekürzte Ausgaben seiner besten Werke gäbe: Der ganze altbackene Gespensterscheiß wird gestrichen, oder da, wo es für das Verständnis des Rests nötig ist, so knapp wie möglich zusammengefaßt. Die meisten Romane Kings würden um drei Viertel oder mehr schrumpfen. Aber diese Abspeckkur bekäme ihnen bestens!
Das gilt jedoch nicht für die Romane „In einer kleinen Stadt“ und „Die Arena“. Die gehören mit Abstand zum Besten, was ich von King gelesen habe. „Die Arena“ ist beklemmend: ohne jedes genretypische Horrorelement horrorhafter, als alles, was ich sonst von King gelesen habe.
Allgemein ist festzustellen: Was die „phantastischen“ Elemente seiner Geschichten angeht, ist Steven King nicht sehr einfallsreich und phantasievoll. Er hält sich an die altbackenen Schauermärchenelemente: Gespenster, Hexerei, Dämonen, Zombies, Vampire und nicht sehr originelle Monster, die auffallende Ähnlichkeit mit Spinnen oder Oktopussen haben. Und alles wird zusammengekittet mit Telepathie und Telekinese.
Dadurch flachen seine Geschichten nicht selten ab: Einem atmosphärischen, lesenswerten und vielversprechendem ersten Teil folgt der eigentliche Horror, der oft eher grotesk ist (z.B. eine Stadt, die von den Geistern früh verstorbener Rock- und Bluesmusiker bewohnt wird); oder klischeehaft wenn z.B. Figuren aus dem Lovecraft-Museum ausgeliehen werden oder die übliche Zombiemasche abgezogen wird. – Auch viele minutiöse Schilderungen körperlichen Schmerzes wirken aufgesetzt, um genretypische Erwartungen zu erfüllen. – Aber wie gesagt: das Atmosphärische und das Menschliche, und natürlich das Lesevergnügen, entschädigen für die Enttäuschungen.
Die besten unheimlichen Geschichten die ich kenne sind immer noch: „Arthur Gorden Pym“ von E.A. Poe, „Die Weiden“ von Algernoon Blackwood, „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann, „Ratten im Gemäuer“ und „Ctullus Ruf“ von Lovecraft, „Der Horla“ (2. Fassung) von Guy de Maupassant.
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Es gibt einen Unterschied zwischen der Literatur der Angst und der Literatur des Leids. In den besten Werken der Angstliteratur sind Elemente der Literatur des Leids nicht ausgeschlossen – wie z.B. bei E.A.Poe oder die erwähnte Passage aus Kings „Friedhof der Kuscheltiere“. Und Literatur des Leids – wie z.B. „Der Horla“ – kann auch ängstigen.
Doch meist ist die Horrorliteratur weit entfernt davon, eine Literatur des Leids zu sein, weil alle wissen: Hier soll jetzt gegruselt oder schockiert werden, es ist nur ein Spiel. Wir wollen uns verunsichern lassen, mit unseren Ängsten auseinandersetzen, Sensationslust stillen, aber nicht mit dem auseinandersetzen, was uns existentiell erschüttert, was beklemmend ratlos macht und am Leben zweifeln läßt.
Goethes Darstellung von Margarete im Kerker war für mich weit schockierender als alles, was ich bei King oder Lovecraft gelesen habe. Das Gleiche gilt für eine Szene in Kafkas „Der Verschollene“: die Darstellung von Mobbing durch Vorgesetzte in einer Situation, in der der Betroffene vor dem Nichts steht und buchstäblich verloren ist, wenn er die Stelle verliert.
(Zur Literatur des Leids siehe auch: Splitter, Einleitung zu einer Kurzgeschichte von D. Seefeld (auf diese Website).
3 Zu Verfilmungen von Werken Stephen Kings
„Shining“ von St. Kubric ist keine Verfilmung sondern ein Film, das muß man ihm zu Gute halten. – Ich halte ihn als Kunstwerk jedoch für fragwürdig wegen der Filmmusik: Was wäre der Film ohne die als Filmmusik genutzte Musik von Görgy Ligeti und Krzysztof Penderecki? Wahrscheinlich streckenweise armselig und ein krasser Gegensatz zu Jack Nickolsens grandiosen Darstellungsleistungen. Ich finde es grundsätzlich ästhetisch fragwürdig, autonome Musikkunstwerke als Filmmusik zu benutzen. Dieser Film ist daher kein eigenständiges Kunstwerk, sondern eines, das sich auf andere Kunstwerke stützt, es braucht die Musik wie ein schwaches Rückgrat ein Korsett.
Die Verfilmung von „Shining“, die King veranlaßte, steht im Schatten von Kubrics Film, wirkte auf mich aber auf ihre Weise ebenfalls atmosphärisch und erlebnisreich.
Der Film „Der Nebel“, von Frank Darabont nach Kings gleichnamiger Erzählung, ist nach meiner Einschätzung einer der wenigen Fälle, in denen die Verfilmung besser ist, als die Vorlage. Der Regisseur gab dem bei King nur angedeuteten religiösen Fanatismus mehr Raum und buchstabierte ihn aus. Das fand ich am horrorhaftesten. Und es macht ihn zu einer anschaulichen lebensechten Studie über den neurotischen religiösen Fanatismus, der das weiße Amerika von Beginn maßgeblich geprägt hat und sozusagen in seine Fundamente eingeschrieben ist.
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