Die Mummenschanz (Beginn)

(Lesezeit 6 Minuten)

1 Überblick über den ersten Teil

Auf der Mummenschanz wollen die Leute ihrem Alltag entfliehen und Lebenslust genießen: Schaulust, Selbstdarstellungslust, Verwandlungslust, Kreativität, Spiel, Abenteuer, und alles auf witzige und geistvolle Art und Weise.

Für die Inszenierung der Mummenschanz ist es wichtig, sich diese Aspekte bewußt zu machen und genußvoll „auszukosten“ – statt einfach bloß den Text mit nichtssagenden Bildzeichen zu verdoppeln (wie streckenweise in der Stein-Inszenierung ). Gut inszeniert kann die Mummenschanz grandioses Theater werden: ein Rausch der Worte und Bilder!

Der Herold erinnert frappierend an einen Fernsehmoderator, der – der Quote wegen – alles, was man sehen kann, noch mal haarklein erklärt, damit selbst der Dümmste kapiert, was vor sich geht.

Wortreich führt er in die Revue ein und stellt die erste „Nummer“ vor: Junge Frauen, die als Moddel in eigener Sache ihren selbstdesignten Kopfschmuck aus künstlichen Blumen vorführen. – Hier dürfen die Zuschauer was zu schauen kriegen: Schöne Frauen mit lieblichen, phantastischen oder abenteuerlichen Blumengestecken im Haar. Sie legen ihre Kreationen zum Kauf aus, so daß der Saal zu einem Blumenmeer wird.

Im Auftritt der jungen Frauen geht es um das Thema: wie durch Liebreiz, Anmut und Schönheit Lebensfreude entsteht. Die Freude an der eigenen Schönheit, das Spiel mit ihr, ihre bewußte Gestaltung, das „Anreichern“, „Unterstreichen“, „Akzentuieren“, ist an sich etwas Unschuldiges, auch wenn es nie ganz frei von Berechnung ist. Aber je weniger Berechnung, desto größer die Anmut.

In Goethes Zeit wurde das „Herausputzen“, die bewußte Gestaltung der körperlichen Schönheit, noch der Rolle der Frau zugeordnet. „Denn das Naturell der Frauen ist so nah mit Kunst verwandt“: Goethes Vorstellung, daß die Frauen ein „natürlicheres“ Verhältnis zum Nicht-Natürlichen hätten, ist daher zeitbedingt und antiquiert. – In einer modernen Inszenierung der Mummenschanz könnte den jungen Männern, die später auftreten, die gleiche Gelegenheit eingeräumt werden, mit Inszenierung ihrer körperlichen Attraktivität Bewunderung auszulösen.

Die Hofleute haben sich als Gärtner und Gärtnerinnen verkleidet: Sinnbild des Naiven. Aber hier „gepaart“ mit „Galanterie“, mit höfischer Verhaltenseleganz. – Mit diesem Vorzeichen der Naivität wird der „Ernst“ des sonstigen berechnenden Taktierens mit der eigenen Attraktivität ausgespannt. Hier darf gespielt und probiert werden, hier müssen Mann und Frau nicht die sein, die sie sonst sind.

Die überzüchteten Hofleute träumen sich in eine naivere, verspieltere, naturnähere Welt – sie schaffen sich in der Mummenschanz eine Traumsphäre, in der sie ihre sexuellen Wünsche (fangen und gefangen werden) mal „unverhohlener“ (Fischer, Vogelfänger) ausleben dürfen, auf  phantasievolle Weise: „verblümt“ als „Naturburschen“ und „Dorfschönheiten“, als Menschen, die als unbefrachtet und naturnäher fantasiert werden, als unbefangener, ungekünstelter, verspielter, schamloser, enthemmter, wilder…

Das äußerste Gegenmodell zu den Gärtnerinnen sind die Lamien in der „klassischen Walpurgisnacht“: Vampire, die in aufreizender Aufmachung Männer anlocken und aussaugen. Berechnung pur, null Spiel. Obwohl Mephisto das durchschaut, geht er ihnen auf den Leim und stöhnt: „und dennoch tanzt man, wenn die Luder pfeifen“.

Berechnung hemmt das Spiel, aus Anmut wird „Starrheit“: aus Angst, nicht alle Chancen der eigenen Schönheit optimal ins Gefecht um die besten Männer zu bringen, möchten berechnende Frauen nichts riskieren, verkneifen sich alles Spielerische oder „spielen“, spielerisch zu sein, mit einer betonten Lässigkeit, die so sterotyp ist, daß sie nur eine andere Form von Starrheit ist. (Chiron bringt das später auf den Punkt: „Was, Frauenschönheit will nichts heißen, ist gar zu oft ein starres Bild, nur solch ein Wesen kann ich preisen, das froh und lebenslustig quillt! Die Schöne ist sich selber selig, die Anmut macht unwiderstehlich!“)

Je festgeschriebener Menschen – Männer wie Frauen – auf die Rolle des oder der Schönen sind, desto mehr haben sie zu verlieren, wenn sie die Potentiale der Schönheit nicht gut genug nutzen, desto ängstlicher und starrer müssen sie darauf bedacht sein, „gut rüberzukommen“, desto weniger Humor, Selbstironie, Experiment und Spiel, desto weniger „Anmut“. – Die Mummenschanz, ist eine Art Experimentierkabinett: „kein Markten finde statt“: keine Konkurrenz, nur Lust am Spiel mit der Schönheit. – Die Mummenschanz soll von Handlungsdruck frei bleiben.

Naja, wie mans nimmt: dahinten kommen braungebrannte Gärtner. So ganz erfolglos will frau da sicher doch nicht sein. Doch hier braucht nichts so ernst genommen werden, wie „in freier Wildbahn“, wie unter dem im Alltag üblichen Handlungsdruck aus persönlichen Bestrebungen und Selbstbildimperativen sowie aus dem, was die Beziehungen zu anderen Menschen (z.B. zum Partner) gebietet sowie den gesellschaftlichen Normen und Rücksichten. (Allerdings wird es immer einige Männer und Frauen geben, die selbst unter der Narrenkappe noch alles bierernst nehmen und aus ihrer Haut keinen Millimeter hinaus können (fachdeutsch: keine Rollendistanz aufbauen können – keine Distanz zu den eigenen Identitätsvorstellungen, z.B. zur Rolle der außergewöhnlich attraktiven Frau.)

Wenn man sich im Alltag „daneben“ benimmt, d.h. den Normen und dem Selbstbild nicht entspricht, ist das peinlich, man muß befürchten, daß das gegen einen verwendet wird. – Hier, auf der Mummenschanz, kann man gemeinsam darüber lachen; ja, Schminkfehler, Übertriebenheiten, unfreiwillige Stilbrüche, Mißverhältnisse von Anspruch und Wirklichkeit und dergleichen Vorkommnisse, für die man sich im Alltag schämen muß – vielleicht noch auf Jahre, wenn die Sprache nochmal darauf kommt – können auf Jahre hinaus noch Pluspunkte bringen, wenn man erzählt, wie schräg und komisch man da ausgesehen hat. (Nur der Frau, die zu ihrer Rolle als außergewöhnlich attraktiver Frau keine Rollendistanz aufbauen kann, wäre das eine so peinlich wie das andere.)

Die Mummenschanz bietet Freiheit: man kann mal aufatmen, man muß nicht die Rolle ausfüllen, die man sonst meint ausfüllen zu müssen, man ist ausgespannt aus den Zwängen, die Gesellschaft und Identität einem auferlegen. Man kann „Farben“ in sein Leben bringen, die es sonst nicht hat. Träume dürfen mal gelebt werden.

 

2 Binneninterpretation:

2.1 Ästhetische und symbolische Reize

Sich schön machen, ist bereits künstlerische Betätigung. Dabei gibt es rein ästhetische Reize und es gibt ästhetische Reize gekoppelt mit „symbolischen“ Reizen: Olivenzweige und Ährenkränze, Symbole von Frieden und Reichtum; oder Rosenknospen, das wohl frivolste Symbol: unscheinbar aber sexuell vielversprechend…

Auch bei Margarete gab es die Kombination von ästhetischen und symbolischen Reizen: „Am Golde hängt, zum Golde drängt doch alles, ach wir Armen!“ – Gold ist schön, aber auch teuer, es ist ein Statussymbol, das macht es so faszinierend für Margarete.

Faust war auch ein Fallensteller und lockte Margarete „auf den Leim“. – Und die Furien beschreiben später, wie sie es geschafft haben, Faust von Margarete abzubringen.

 

2.2 Mutter und Tochter

Ähnlich wie später bei dem Besoffenen wissen wir nicht, ob Mutter und Tochter auch „Masken“ sind, Leute, die etwas vorspielen und persiflieren wollen, oder ob es tatsächlich passiert.

Hinter dem Auftritt von Mutter und Tochter verbirgt sich das Drama junger Frauen, die keine Männer wollten, aber gleichwohl von den Eltern auf die „Weibchenrolle“ festgelegten wurden. Sie haben verweigert, einen Gemahl zu finden (haben allerdings, um ihre Ruhe zu haben, so getan, als ob (die Mutter spricht vom „Wink mit dem Ellebogen“); sie durften aber auch keinen Beruf lernen (die Mutter dachte sie von Anbeginn als „Weibchen“); und jetzt kriegen die Eltern Schiß, für eine unversorgte Tochter „Hotel Mama“ machen zu müssen.

Die hohe latente Aggressivität traditioneller Lebensformen offenbart sich in dem Geständnis der Mutter, daß sie für ihre Tochter ein Leben vorgesehen hat und die Tochter nicht ihr eigenes leben darf.

Der Rahmen des Narrenfestes, die relative Befreiung von Handlungsdruck, wird parasitär gebraucht, um etwas für den Alltag zu erreichen.

Hier zeigt sich die fratzenhafte Kehrseite der hehren Beteuerungen des Kanzlers in der Hofratszene, wie heilig die traditionellen Werte seien: Um der Sünde vorzubeugen darf man den natürlichen Trieben nicht ihren Lauf lassen, man muß sie kanalisieren. Gut, das klingt nicht ganz verkehrt. Aber was ist sündhafter, als eine Institution Ehe, die – kraft traditionellen Rollen und Versorgungsfunktionen – dazu führen kann, daß die Natur prostituiert wird?

Und was ist teuflischer, als das unter dem Mantel der Heiligkeit zu verstecken, an die man glauben muß, und gleichzeitig das Hinterfragen dieser verlogenen Gepflogenheiten als „teuflisch“ zu ächten? („Natur ist Sünde, Geist ist Teufel, sie hegen zwischen sich den Zweifel, ihr mißgestaltet Zwitterkind“ schimpfte der Bischof.)

Es sind diese unhaltbaren Widersprüche der traditionellen Lebensformen, die zu ihrer Auflösung führen. – Wir sehen das gerade an den traditionellen Lebensformen, die aus anderen Teilen der Welt nach Europa gekommen sind. Es ist nachvollziehbar, wenn sie sich gegen die Zersetzung ihrer Traditionen abzuschotten versuchen. Aber es wird ihnen nicht gelingen. Und vermutlich werden es die Frauen sein, die die Integration vorantreiben, die jungen Frauen, die am meisten von diesen Traditionen eingeschränkt, an ihrer Entwicklung gehindert und ausgenutzt werden.

Niemand muß den Feminismus mögen, aber diese Stelle zeigt nicht nur, was ihn motiviert hat, sondern auch, wieviel Wahrheit darin liegt und zu welchem zivilisatorischen Fortschritt er führt: „Zum Mädchen wird man nicht geboren, zum Mädchen wird man erzogen“.

Einmal mehr kommt mir Enzensbergers „Geburtsanzeige“ in den Sinn: „Wenn nicht das Bündel, das da jault und greint, was wir ihm zugrichtet kalt zerrauft, ist es verraten und verkauft.“

Diese namenlose, stumme, auf die Mummenschanz gezerrte junge Frau hat nach Margarete meine größte Sympathie von allen Figuren des Dramas.

 

2.3 Die Gärtner: traditionstypische Rollenverteilung oder biologisches Programm?

Mädchen zeigen, wie schön sie sind, Jungs, was sie an Beute anschleppen können (statt Pfirsche könnten es auch Porsche sein („Pfirsche“: ein altes Wort für Pfirsische).

Männer glauben, vom Sehen auf den Liebesgenuß schließen zu können – Frauen haben es da schwerer: Über wieviel Liebeskunst ein Mann verfügt, ist nicht sichtbar, das muß man ausprobieren: „Über Rosen läßt sich dichten, in die Äpfel muß man beißen“.

(Die Interpretation wird fortgesetzt. – Nächstes Bruchstück: Die Plutusepisode: Geld,Geist, Geiz und Gewalt)

Weiterlesen:

Überblick über das Drama: Deutende Inhaltsangabe

Überblick über die Interpretationen: Der Faust-Pfad

 

Link zum Wikipediaeintrag zu Mummenschanz

 

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