Stichworte zur Ästhetik populärwissenschaftlicher Fernsehdokumentation
Wie kann man Astro- und Teilchenphysik ins Fernsehen bringen? Die Ansätze in den Sendungen am Thementag des 11.8.18 waren durchaus gut. Und daß viele Menschen davon fasziniert und inspiriert gewesen sein mögen, streite ich nicht ab. Doch wenn man das Dargebotene daran mißt, was möglich wäre, kann man nur verärgert sein.
Gut war, daß die Dokumentationen ansatzweise unterschieden zwischen Phänomenen und Interpretationen: So wurde z.B. gezeigt, welche Beobachtungen die Idee nahelegten, daß es eine „Dunkle Materie“ geben müsse. Ansatzweise wurde dadurch verstehbar, daß die „Dunkle Materie“ den Status eines wissenschaftlichen Konstrukts hat statt den einer Tatsache. Aber „ansatzweise unterscheiden“ reicht nicht, zumal wenn es beiläufig und unsystematisch geschieht. Dann verwirrt es bloß. Statt Systematik herrschte Entertainment: Die immer wieder eingestreuten „O-Töne“ der Wissenschaftler waren inhaltlich redundant und sprachlich wenig hilfreich. Allzu offensichtlich ging es dabei um den Unterhaltungswert: um Abwechslung und „Menschelei“. –
Visuell reihte sich eine bemühte Verlegenheitslösung an die andere, wenn z.B. zu einem Text über dunkle Materie ein Vogelschwarm gezeigt wird. – Manche dieser visuellen Ideen haben durchaus künstlerische Qualität, man weiß bloß nicht, was da jetzt noch die Silhouette des Wissenschaftlers soll, der zwischendurch immer wieder seine überflüssigen O-Töne absondert, etwa so wie ein Hund seine Urinmarken. – O-Töne sind Text! Eine Dokumentation sollte sich auszeichnen durch guten, gut durchgearbeiteten Text. Wenn sich da ein O-Ton einfügt, gut. Wenn nicht, ist der O-Ton nichts als Spielerei, die die Aufmerksamkeit zerstreut.
Am Deplaziertesten war die Musik. Sie war nicht schlecht. Aber das ist ja gerade das Problem! Sie war zu informativ! Ich mußte ihr nachhören und mir entging Text. – „Nicht alle sind so für Musik sensibilisiert, daß sie ihr nachhören müssen!“ wird sich der Redakteur über diese Kritik brüskieren. Aber er hat Unrecht: für Musik sensibilisierte Menschen sind hier „Detektoren“ für zu hohen musikalischen Informationsgehalt. Der stört Konzentration und Erleben auch bei jenen Menschen, bei denen er nicht zur Fixierung führt.
Auch im Zusammenspiel von Bildern und Musik zeigten sich künstlerische Ansätze – vielleicht etwas kitschig, aber egal: das darf ruhig schon mal sein und auch im Kitsch liegt eine Wahrheit, ohne Wahrheit schafft es kein Kitsch, kitschig zu sein. Das Problem ist bloß: die Redakteure sollten sich entscheiden: entweder Text oder Kunst. Eine Überfrachtung durch unausgegorenes Tutti-Frutti führt zu nichts.
Den Rotstift ansetzen! Sehr gelungen war die Veranschaulichung, wie aus der rhythmischen Verdunklung von Sternenlicht auf die Planeten geschlossen werden kann, die um den Stern kreisen. – Aber daß der gleiche Sachverhalt vorher nochmal am Modell Motte-Scheinwerfer vorgeführt wurde war nicht nur unnötig sondern auch noch hinkend. Das war schlechtes Handwerk. Ein guter Handwerker muß bereit sein, eine ganze Sequenz zu streichen, wenn sie im Ganzen unnötig ist, egal wieviel Einfall und Mühe darin steckt.
Eine populärwissenschaftliche Dokumentation muß erstens wissen, was sie will und was sie nicht will, sonst über- und unterfrachtet sie gleichzeitig. Und sie muß zweitens drei Erfordernisse in Einklang bringen: die Erfordernisse der Sache, der Verständlichkeit und der Faßlichkeit. („Faßlichkeit“ ist ein Begriff für „Informationslogik“, für wahrnehmungs- und auffassungspsychologische Ökonomie sowie sequenziellen und synchronen Zusammenhang: Genauso, wie die Teile eines Textes sinnvoll sequenziell aufeinander bezogen sein müssen, müssen es auch die „Kontrapunkte“ der verschiedenen Informationskanäle sein: Bild, Text und Musik. Auch hier gilt Schönbergs Wort: Kunst komme nicht von Können, sondern von Müssen.)
Die Dokumentationen kamen auf keine anderen Ideen, auf die auch Lieschen Müller kommen würde („Vogelschwarm“ für „Dunkele Materie“). Freilich sollte man Lieschen Müller nicht unterschätzen. Aber was auch immer sie kann, sie hat ihr Können nicht systematisch reflektiert und trainiert. Das ist aber von Redakteuren des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks zu erwarten.
Die Dokumentationen sind ästhetisch dilletantisch. Und als dilletantisch muß auch die Auffassung gelten, daß man für quotenrelevante Attraktivität ästhetische Kompromisse in diesem Ausmaß und dieser Art machen müsse.
(Titel der besprochenen Dokumentationen: „Die fantastische Geburt der Sterne“. – „Das Rätsel der Dunkelen Materie“. – „Aliens: Sind wir allein im Weltraum?“ – Gesendet auf Arte am 11.8.18.)
Nachsatz: Primitive Attraktionstechnologie – zur Dokumentationsästhetik der „Öffentlich-Rechtlichen“ allgemein
Ständig das Getute und Gewute der Musik! Man wird ganz rammdösig! Etwas in den Zuschauern soll betäubt werden, das ist offensichtlich. Anders funktionieren die dokumentarischen „Formate“ wohl nicht.
Ob Moorleiche oder Kathedrale: überall steht der Krimi Pate. Es wird nicht von den Gegenständen erzählt, sondern bestenfalls lernt man etwas von der Erkundung der Gegenstände. So ging es in einer Dokumentation über einen Künstler nicht um sein Werk sondern um die detektivischen Recherchen zu einer geheimen Geliebten. – Und statt einfach Wissen darzubieten oder zu erklären oder Zusammenhänge zu stiften, werden Rätselfragen gedrechselt, um im Zuschauer ein Spannungsgefühl zu erzeugen: „Werden die Wissenschaftler es schaffen, dieses Rätsel zu lösen?“ Bei dieser Infantilisierung lernt man selten etwas über das, worum es eigentlich gehen sollte. Interessanter als die Frage, was die moderne Gerichtsmedizin an antiken Moorleichen erkennen kann, wäre doch, darzustellen, wie die Menschen damals ihr Überleben der Natur abringen mußten und warum Menschen unter solchen Bedingungen glauben, mit dem Opfern ihres Häuptlings besseres Wetter machen zu können. – Und weit interessanter als die Frage, wie heute die Abstände von Kathedralenpfeilern in 30 m Höhe gemessen werden, wäre die Frage, wie diese Kathedralen im 12. Jahrhundert überhaupt möglich waren.
Der Dritte Grundzug der Banalität ist die Reizüberflutung: Ständig werden die Zuschauer mit neuen Bildern beschossen. Die Strategie ist so fadenscheinig – getrieben von der Angst, die Zuschauer könnten wegzappen, wenn man eine Einstellung nur einen Sekundenbruchteil zu lang werden läßt! – Was herauskommt ist närrisch, z.B. in einem Tierfilm: Plötzlich wird ein Adler hoch über der Landschaft gezeigt, dann genauso plötzlich ein anderer und man denkt, ach, was gibt es in dieser Landschaft viele riesige Adlerarten – d.h. man kann das gar nicht zu Ende denken, denn schon sieht man ein völlig anderes Tier und bemerkt nachträglich, nicht nur, daß bereits der zweite Riesenvogel etwas anderes als ein Adler war, sondern auch, daß er in einer ganz anderen Landschaft flog, am anderen Ende der Welt; das Bindeglied zwischen den Bilder war offenbar einzig die Länge der Flügelspannweite. – Die Krone der Narretei war eine filmische Dokumentation über Tierdokumentationsfilmer. Über das Filmen von Tieren erfuhr man nicht viel mehr, als daß man bei schlechtem Wetter lange warten muß, bis das Licht stimmt, und daß die Ausrüstung sehr sehr schwer ist. Dafür sah man schleppende Menschen, blitzlichthaft einmal im Fluß waten, einmal in hohem Schnee, einmal am Berg usw, usw, und dazwischen immer wieder genauso blitzlichhaft eingeworfen ein Sammelsurium von Tieraufnahmen, mal eine Giraffe, mal ein Eisbär, mal eine Walfluke, mal dies, mal jenes.
Daß es sich bei diesen Dokumentationen oft um Produktionen französischer oder englischer Öffentlich-Rechtlicher Rundfunkanstalten handelt, macht es nur noch schlimmer. Es läßt vermuten, daß sich auch dort die Profis nicht gegen die Funktionäre durchsetzen konnten. – Und es entlastet ARD und ZDF nicht: Wenn ein Cafe langweiligen Kuchen auftischt, kann es sich ja auch nicht damit rausreden, es habe ihn nicht selbst gebacken.
Gemessen an dem, was wir heute machen könnten, gemessen an dem, was an Möglichem den Zuschauern vorenthalten wird, sind diese Dokumentationen Betrug am Publikum.