Der Text kann mehr, viel mehr. Wer sich wundert, daß er von der Darbietung nicht begeisterter ist, könnte sich fragen: hat es damit zu tun, daß es manchmal so klingt, als würden die Schauspieler Gedichte aufsagen? So ein Eindruck entsteht, wenn die Schauspieler zu sehr der Schwerkraft von Reim und Rhythmus verhaftet bleiben. Die Endreime werden fast ständig leicht betont. Dadurch wirkt das Sprechen fast überall auf gleiche Weise leicht verbogen. Das monotonisiert die Darbietung des Textes. Doch selbst im Verbogenen gibt es immer wieder überraschende ausdruckvolle Betonungen, die etwas zum Vorschein kommen lassen. Diese „Binnendifferenzierung“ zeigt, daß Regisseur und Schauspieler sich die Bedeutungsdimensionen des Textes bis ins Detail gut erschlossen haben. Möglicherweise sind die Schauspieler einfach nicht gewohnt, Text darzubieten, der so starken Formkräften unterliegt. Ich schätze, sie hatten einfach zu wenig Zeit. Für „Faust“ braucht man entweder Spezialisten oder Zeit. – Seltsam bloß, daß ein Regisseur mit diesem Ergebnis zufrieden sein kann. Zumal in Weimar. – Leider kommen wegen der relativen Monotonisierung auch die interessanten Regieideen nicht so zum tragen, wie es möglich wäre.
Monotonie entsteht auch durch den üblichen Bühnenminimalismus: Die Bühne ist meist leer bis auf wenige zeichenhafte Requisiten. Die Folge: mangelnde Trennschärfe zwischen den Szenen wegen Monotonisierung der Grundstimmung, und mangelnde Unterstützung des Textes durch das Bühnenbild. Die Gleichgültigkeit der Bühne gegen den Text führt zu einem Auseinanderfallen von Gehalt und Ausdruck. Bestes Beispiel dafür ist die Beschwörung von Helena und Paris: Mephisto und Faust sind völlig allein auf der Bühne. Der Hofstaat ist nicht anwesend. Jemand der das Stück nicht kennt, kommt gar nicht auf die Idee, daß es sich hier um ein Stück im Stück handelt. Es wirkt eher wie die symbolistische Darstellung eines seelischen Vorgangs in Faust. Die Beziehung zur Welt ist gestrichen. – Der Übergang zur Laboratoriumsszene ist minimal. Eine Laboratoriumsassoziation entsteht nicht. Goethes Wissenschaftssatire vermittelt sich nicht. Wir sehen kein Labor sondern einen Stall: am Boden liegt ein voller Sack und Wagner könnte für einen Bauern gehalten werden. Der Bauer zieht sich aus und will den Sack ficken. Man muß angestrengt nachdenken, was der Künstler uns damit sagen will: Ein Nerd traut sich nicht zu, einen Sexualpartner zu gewinnen und muß sich deshalb selber einen machen? Und lügt sich in die Tasche dabei, weil er vorgibt, es ginge ihm eigentlich um das andere Ende der Wirbelsäule, um Gehirne? Eine solche Botschaft wäre ja in Ordnung, aber dem Text allein und gegen den Augenschein aufzubürden, daß es hier um ein Labor und einen Wissenschaftler geht, funktioniert das? Webers Inszenierung ist gut dafür, solche Fragen zu beantworten. – Und weiter könnte man fragen, ob es das bringt, Botschaften so unanschaulich und spekulationsbedürftig zu vermitteln. Rätselhefte sind billiger als Theaterkarten. – Und die Duplizierung des Homunkulus in ein Wesen im Sack und ein fragmentarisches Gesicht projiziert auf die Wand wirkt einfach bloß konzeptionslos.
Die klassische Walpurgisnacht ist ein rauschendes Fest. Davon ist in der Inszenierung nichts zu spüren. Eine zerbrochene griechische Statue soll kenntlich machen, daß hier Griechenland ist. Richtig: man muß dranschreiben, daß jetzt die antiken Fabelwesen kommen, denn einen Unterschied zwischen Sphinxen, Lamien und Phorkiaden erlebt man nicht. Und schade: die Pointen, z.B. in der Lamienszene, sind oft verhuscht. Und wieso ist Manto Gretchen? – Die Spärlichkeit der Mittel wirkt nicht wie eine Botschaft sondern einfach bloß einfallslos und nachlässig.
Lehrreich für die Frage, warum keine Begeisterung aufkommt, ist auch die Helena: Sie wird als Karikatur einer Prommifrau gezeigt. Auch das kann man ja machen. Dann kriegt man allerdings die Kurve nicht, wo Helena eben keine unfreiwillig komische Promifrau mehr ist, sondern eine Charakterfrau, die ihrem Tod gelassen ins Auge sieht. Die Inszenierung vermittelte das Gefühl, daß da was nicht zusammen paßt. Der Regisseur hat offenbar keine Gegenrechnung aufgestellt: Paßt ein so auf Karikatur angelegter Anfang zu den Botschaften des Szenenendes, wo Helena angesichts ihres drohenden Todes sagt: „Schmerz empfind ich, keine Furcht“? – Natürlich könnte man gerade dadurch eine Spannung erzielen, daß man eine exzentrische Promifrau zeigt, bei der, mit dem Tod konfrontiert, plötzlich ganz andere Seiten ihrer Persönlichkeit zum Vorschein kommen. Aber dafür darf man nicht durch einen zu karikaturhaften Szenenbeginn die ganze Szene unter das Vorzeichen des Augenzwinkerns stellen. Unter diesem Vorzeichen wird die tragische Dimension nivelliert, es entsteht am Szenenende etwas, was weder komisch noch tragisch ist, etwas Unklares, das nicht wirklich einordbar ist, nicht mal als Nichteinordbares, etwas, was nichts mehr auslöst, was man nur noch zur Kenntnis nimmt. Der Text wird zum Rauschen.
Der Regisseur versucht, aus dem Text das Publikumswirksame herauszukitzeln ohne darauf zu achten, ob er damit ein stimmiges Konzept hinkriegen kann, das die anderen Eckpunkte des Textes integriert. Solche Gefälligkeit ist ein Betrug am Publikum: Die Inszenierung ist reizvoll aber erlebnisarm. – Das Reizprinzip schränkt auch die Gesamtkonzeption ein: Im ersten Akt hätte man z.B. den Narren gut weglassen können und damit Zeit für Stringenz gewonnen. Aber der Regisseur wollte sich offenbar die Komik einer überzeichneten Korpulenz nicht entgehen lassen. Er läßt sich verleiten. Das ist im buchstäblichsten Sinne nicht „virtuos“.
Baucis ist im Hochzeitskleid. Was soll diese Gegenassoziation zu Alter? Die arme Schauspielerin: um Greisenhaftigkeit zu zeigen, muß sie ständig mit den Händen zittern. Das wirkt einfach nur bemüht. Und der Wanderer umkreist die Alten auf Rollschuhen. Irritationen dürfen ja sein, aber entweder, sie vermitteln etwas, oder man sollte die Entscheidung treffen, ein absurdes Theaterstück aus dem Text zu machen. Mal so, mal so, das wirkt in einem wenig begeisternden Sinne verspielt. – Es ist ja richtig, daß Regie Zusammenhänge schafft, Hintergründe beleuchtet, übersehene Aspekte veranschaulicht. Aber was soll es bringen, bei der Darstellung eines liebenswürdigen alten Ehepaars ständig an Jugend zu erinnern? Warum wird so bemüht versucht, einen Eindruck zu erzeugen und gleichzeitig zu irritieren? Das wirkt so, als ob da jemand keine anderen Einfälle hat, als einfach bloß das Gegenteil zu machen. (Zumal, wenn er vorher aus einem Kentauren einen Rollstuhlfahrer macht.) – Und dann verstrickt sich der Regisseur in die Folgeprobleme seines Einfalls: Damit bei der jungen Frau im Brautkleid überhaupt klar wird, daß sie eine alte Frau darstellen soll, muß sie das ganz betulich tun. Das ist wie: dranschreiben müssen, was es ist, weil man es nicht zu zeigen vermag. Der Mittsommernachtslöwe läßt grüßen.
Der Text der Sorge gehört mit Abstand zum Virtuosesten und gehaltlich Dichtesten der deutschen Sprachkunst: In wenigen Versen eine nahezu klinische Phänomenologie der Depression. Webers Inszenierungsidee dazu ist nicht schlecht (und wird deshalb hier nicht verraten). So wie er sie realisiert, stört sie aber die Entfaltung des Textes erheblich. Und dann stört der Text zurück: Man denkt: kann die nicht endlich mal mit dem Gebrabbel aufhören!
Mit Abstand am Schwächsten war der Schluß. Wer nicht weiß, daß Mephisto die Beute geklaut wird, käme bei Webers Inszenierung nicht auf die Idee. Deshalb vermittelt sich auch nicht, wieso Mephisto plötzlich so sauer ist. Der Schluß wirkt, als habe einer zu üppig gelebt und müsse am Monatsende hungern.
Im Ganzen bleibt bei mir der Eindruck: Der Regisseur macht Theater, wie man Theater eben macht heutzutage. Es ist die übliche merkwürdige Kombination von Verulkung und Verrätselung. Mit dem Ulk will man das Publikum packen und muß dann den Ulk verrätseln, damit das Publikum das Gefühl kriegt, hier was ganz „Tiefes“ und „Schweres“ genossen zu haben. Die Freiheiten, die das moderne Theater sich geschaffen hat, sind noch zu sehr ein Freibrief für Nachlässigkeit und bemühte Originalität. Der Regisseur verschwendet seine eigenen Fähigkeiten und die seiner Schauspieler an eine unzureichende Inszenierung.
Goethes Text ist leichter zu verstehen, als es bei dieser Inszenierung den Anschein hat. Und er ist weit bedeutungsvoller, begeisternder und rauschhafter…
Nachsatz: In der Besprechung der Weimarer Faust-2 Premiere schreibt der Literatur- und Theaterprofi Christian Rakow folgendes über Faust 2: „Goethes Alterswerk ist wahrlich ein Bühnenunding. Wer sich als Leser einmal durch die „klassische Walpurgisnacht“ geackert hat – oder wohl eher durch den Anmerkungsapparat dazu – ahnt, dass die Spuren dieser Mythenspiele nicht in Äonen abgeschritten werden können. Ein Bibliotheksdrama ist’s, gespeist aus Buchwissen und gemacht für Buchwissen“ (nachtkritik). – Eine ähnlich erstaunliche Fehleinschätzung unterlief Stemann, als er den besten Klamauk der deutschen Literatur wegließ und durch billigen selbstgemachten Klamauk ersetzte. – Wenn Profis so danebenliegen in der Einschätzung eines Textes, dann braucht uns gar nichts mehr zu wundern. Goethes Text hat es in sich. Man muß sich lange damit beschäftigt haben, wahrscheinlich muß man viel von ihm auswendig mit sich herumtragen, um seine Potentiale einschätzen zu können. Wir Deutschen haben einen der größten Schätze unserer Literatur noch gar nicht gehoben! Da sitzt noch ein Dornröschen im Buch und wir Deutschen kriegen es nicht rausgeküßt!